256
und
Berichte
Kritiken.
der Wissenschaft selbst unvermerkt ein andrer geworden ist und dass wir
jetzt Ansprüche auf ein consequenteres ästhetisches System und auf schärfere
historische Kritik machen müssen, als wir auch in dem letztgenannten Werke
zu Grunde liegend finden. Gleichwohl dürfen wir die Pflicht der Dank-
barkeit gegen unseren rüstigen Vorarbeiter nicht aus den Augen setzen;
ihm verdanken wir es vor vielen Andern, dass wir jetzt ein Gebäude auf-
zuführen im Stande sind, wozu wir den Grund schon vorbereitet finden.
Ueber das Allgemeine des vorliegenden Werkes können wir uns in
dieser Anzeige kurz fassen. Die Art und Weise des Verfassers ist dem
Leser aus seiner Geschichte der Baukunst, deren Gang im Wesentlichen
beibehalten wird, bek nt. Einzelnes, wie z. B. das Kapitel von der Bil-
dung der Gestalten, ifkürzer und anschaulicher behandelt, Andres durch
die Entdeckungen der neusten Zeit vermehrt oder berichtiget worden. WVir
begnügen uns, einige Punkte, die uns während des Lesens als bedenklich
aufstiessen, hier in Erwägung zu ziehen.
Was zuerst den altindischen Höhlenbau anbetriift, so behandelt
der Verfasser denselben als ein Beispiel des höchsten Alterthums, ohne
jedoch andre wesentliche Gründe vor-zubringen, als den: „dass die späteren
Geschlechter, die es verstanden, auf freier Erde Bauwerke zu errichten,
wohl schwerlich die mühsame und zeitfordernde Arbeit der Felsenaushöh-
lung unternommen haben würden." (S. 10). Hiegegen spricht jedoch ein-
fach der Umstand, dass gar nicht selten in diesen Höhlenbauten Architek-
turen vorkommen, an denen sämmtliche Theile eines entwickelten F reibaues
sichtbar werden. Andre Forscher, wie Langles in seinen Monumens anciens
et modernes de lffindostan, haben dagegen in der gewölbartig ausgehzfhenen
Decke einiger Monumente (die jedoch überall auf den frühesten Entwicke-
lungsstufen der Kunst, bei den Aegyptern, den Mexikanern, in den Tholen
der ältesten Bewohner Griechenlands u. s. w. vorkommt), sqwie in dem
sogenannten nkorinthischen" Kapital einzelner Tempel 1) und andern geringe-
ren Kennzeichen, eine Nachahmung ägyptischer, griechischer, römischer,
christlicher u. s. w. Bauformen gesehen, die von abyssinischen Künstlern
im Anfange des Mittelalters nach Indien hinübergetragen sein sollen;
Ansichten, die um ein Paar Jahrtausende auseinander stehen!
Umtzwischen diesen, durch nichts Wesentliches begründeten Annahmen,
einigermaassen sichere Haltpunkte zu gewinnen, scheint es, bei dem ltjangel
direkter historischer Nachweisungen, am Besten, wenn wir einen Seiten-
blick auf andre Verhältnisse der indischen Geschichte, namentlich ihrer
Literatur. werfen. Die grossen epischen Gedichte, deren Abfassung etwa
um die Zeit des Jahres 1000 v. C. G. fallt 2), erwähnen der Höhlentempel
nicht, während letztere dagegen in ihren Bildwerken Scenein die 11118 jenen
entnommen sind, darstellen; wir werden somit den I-Iöhlentempeln, bei
ihrer hohen Bedeutsamkeit und weiten Verbreitung, ein jüngeres Alter mit
Bestimmtheit zuertheilen können. Sodann finden wir in den Tempeln mit
1) Es sind zwei neben einander befindliche Tempel zu Ellora, die überdies
zusammen eine Gesammtanlage bilden. Unter dem Kapitäl fallen auf die Ecken
des Schaftes grosse Blätter nieder, die allerdings eine ferne Aehulichkeit mit dem
Akanthus zu haben scheinen. Es ist unbegreiflich, wie selbst K. O. Müller in
seinem Handbuch der Archäologie der Kunst (S. 279) auf diesen ganz verein-
zelten und von dem sonst ziemlich consequenten System der indischen Kunst
abweichenden Umstand irgend ein Gewicht legen konnte. 2) S- von Bohlen!
das alte Indien, C. 5, 5. 26.