das Bild von
Ueb er
Tiziau
0120.
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Vestalin? Gerade aber der Schauer, den der Contrast zwischen dieser
üppigen, verführerischen Tänzerin und dem heiligen, still zürnenden Lei-
chenhaupte des Propheten hervorbringt, ist das Tiefbedeutsame in diesem
Bilde. Aehnliches zwar habe ich stets vor den Bildern Tizians empfunden,
auch wenn das Memento mori nicht so, wie hier, auf den Händen getragen!
ward; ich konnte mich bei seinen glühenden Gestalten nie des alten Liedes
vo_m Venusberge erwehren.
Wenn nunmehr die, in sämmtliehen Bildern wiederkehrende, für eine
Portraitligur wenigstens sehr gewagte Stellung, wenn die eigenthümlichen,
um den Ausdruck des spanischen Beschreibers zu brauchen: die
venezianischen Züge des Gesichtes eben in dem Madrider Bilde ihre tiefere
Bedeutung finden, und hier ein dichterisches Ganze sich darstellt; so frägt
es sich ferner, in welchem Verhältniss, sowohl die andern, als namentlich
das Berliner Bild, zu jenem stehen. Ich habe bereits die charakteristischen
Unterschiede der Stellung in den beiden letztgenannten Bildern angeführt,
aus denen hervorgeht, dass von einer eigentlichen Kopie des einen nach
dem andern nicht die Rede sein kann; dies bestätigt auch noch der Umstand,
dass das gelbseidene, blumig gewirkte Kleid der Berliner Fruchtträgerin mit
langen, engen, bis an die Handgelenke reichenden Aermeln versehen ist,
während die Madriderin ein kurzärmliges Kleid trägt. Würde ein Kopist
einen der schönsten Theile eines Tiziamschen Bildes verhüllen? oder würde
er, umgekehrt, es wagen, wo Tizian bekleidete Arme gemalt, das Original
übertreffen zu wollen?
Wichtiger aber, als all diese äusseren Gründe für die Originalität
unseres Bildes, die des spanischen scheint mir, der obigen Darstellung
zufolge, gleichfalls nicht wohl zweifelhaft, spricht das innere Leben,
welches dasselbe durchdringt, es zu einem der ersten Sterne unserer Gallerie
macht, vermöge dessen das Bild, wie klein auch in seinen Dimensionen,
doch die Stellung Tizians zu der übrigen Kunstwelt würdig vertritt. Welch
eine Modellirung mit den leisesten, klarsten Schatten! welch eine Kraft
und Intensität der Färbung, ohne dass irgend eine besondere Farbe hervor-
springt! Welch eine Macht und Fülle des Lichtes, ohne dass irgend ein
blendender Effekt den Beschauer verwirrt! Wo soll die Sprache Worte
hernehmen, um diese Vtfahrheit, dies Leben, diese originelle Naivetät genü-
gend zu bezeichnen! Dies Alles lässt sich nicht beschreiben oder beweisen,
nnl- fün1en, Wirf einen Blick auf das nebenhängende berühmte Bild von
Licinio Pordenone, die Ehebrecherin vor Christus, welches stets als ein
Muster im Colorit gerühmt ward: wie grau erscheinen die lebhaften Farben
(lieses Bildes, wenn dein Auge eben auf dem der Cornelia verweilte! wie,
ich möchte sagen, leblos diese meisterlich gemalten Köpfe! wie kalt, im
höchsten Grade kau, jenes in seinen Formen doch so üppig schöne Weib l)!
Uebl-jgeng ist es bekannt, dass Tlzran in der langen Bahn seines künst-
lerischen Wirkens, zumeist wohl auf 39991111112: Veßchiedellß, bßsünders
beliebte Werke seines Pinsels wiederholt hat; auch nehme ich keinen
Anstand, an die Originalität auch noch anderer Wiederholungen des in
Rede stehenden Bildes zu glauben. Gewiss war es ein Gegenstand, der
i) Die Retoueherl, welche bei näherer Untersuchung das schärfere Auge des
Kenngfg auf dem Tiziarfsciren Bilde entdeckt, thun gleichwohl seiner grossen
Wirkung nicht den mindesten Abbruch, und sind somit erst recht ein Beweis für
die Aechtheit und den ausserodentliehen Werth dieses Bildes.