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das Bild
Ueber
Tizian
etc.
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Beschreibung desselben: QLa Cassette clu Titien. Auf Leinwand gemalt,
3 Fuss 6 Zoll hoch, 2 liuss 11_ Loll breit; Lebensgrösse, Kniestück. Ein
schönes Mädchen, welches für die Tochter des Tizian gilt, hält eine Schaale,
darauf ein mit Steinengeschinücktes Kästchen, welches sie erhebt, wie um
es sehen zu lassen; hinter ihr, zur Linken, sieht man einen, nach Art
eines Festons zurückgeschlagenen Vorhang, zur Rechten Etwas vom freien
Himmel." Eine Anmerkung fügt hinzu: „Man ist der Meinung, dass Tizian
in dieser Schaale ursprünglich das Haupt des TäufersJohannes gemalt
habe." Füssli (Künstlerlexicon II, S. 2044) scheint, nach seiner gewohnten
Weise, die in dieser Anmerkung mitgetheilte Meinung für etwas ungereimt
zu halten; wir werden gleich sehen, dass dieselbe, wenn auch eben hier
vielleicht nicht gültig, so doch sehr wohl im Einklang mit dem Gesammt-
Charakter des Bildes sein mochte. Die Descrzjation giebt als früheren
Besitzer dieses Bildes den Chev. de Loraine an. Später, im Jahre 1799,
wurde es, wie bekanntlich ein grosser Theil jener Gallerie, in London
verkauft, und zwar an Lady Lucas, für 400 Pfund. WVenn Passavant (a. a.
O. S. 276), aus dem ich diese Notiz entnehme, das Bild als „'l'iziansToch-
ter, einen Helm haltend" bezeichnet, so scheint hier ein Versehen in der
Uebersetzung des Kataloges Statt gefunden zu haben, indem vermuthlich
das englische Caslcet (Kästchen) mit Caslc (Helm) verwechselt ist.
Eine vierte Wiederholung endlich desselben Gegenstandes, für uns die
interessanteste, ist in dem Königl. Museum zu Madrid vorhanden. Hier ist
wirklich, eben wie es bei dem letztbesprochenen Bilde angedeutet wurde,
in der Schaale, welche jenes Mädchen emporhebt, das Haupt des 'l'äufers
enthalten. Uebrigens gehört dies Bild nicht, wie man zu vßrmuthßn geneigt
sein dürfte, zu denjenigen, welche bereits unter den Regierungen KarPs V.
und Philipps lI. nach Spanien kamen, vielleicht gar dort selbst, wie die
Spanier zu erweisen sich bemühen, von Tizian gemalt wurden; erst um
die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts kam es dahin. Vorher nämlich in
der Gemälde-Sammlung KarPs l. von England beiindlicli, wurde es nach
dessen Enthauptung, für 150 Pfund, samnit- anderen Kunstschätzen, von
dem spanischen Gesandten Don Alonzo de Cardenas, gekauft und nach
Madrid gebracht (S. Passavant a. a. O. S. 262 und 267). In einem der
neuesten Hefte der Colecczon, Zztograßca de cuacelros ziel rey de Espafia el
Seüor Don Fernando VII. (34 Cuademn) wird uns eine Steinzeiclinung
nach demselben mitgetheilt, die eine klare Anschauung davon giebt und
eine gewisse Vergleichung mit unserem Bilde zulässt. Der diesem Blatt
beigefügte Text sagt Iöolgendesi
Salome mit dem Haupte des Taufers, von Tizian. Wir
Sehe]: auf dieser 'l'afel das Bild eines blonden Mädchens, zierlich geschmückt,
angßthan mit einem Schleier, einem leinenen Hemd _m1t breiten Aermeln
und einem Oberkleide von karmoisinrother Seide. Sie trägt eine Schaale
mit einem abgeschlagenen männlichen Haupte, welches, obgleich entstellt,
doch Ehrfurcht eintlösst. An diesen letzten Zeichen erkennen wir die Salßlllßi
welche das Haupt des Tänfers zeigt. Wenn W]l' aber auf der einen Seite
die Unschicklichkeit des gewählten Momentes in allem, was Ausführung
und Gegenstand betriift, und ebenso in Rücksicht auf die Züge einer Vene-
zianerin, dahin gestellt sein lassen, so wagen wir doch den Künstler zu
fragen; wie er der Leinwand das Andenken an einen sonngeheuren Frevel
aufprägen konnte, ohne in der Jungfrau die Wollust, die Frechheit, die
Grausamkeit, die Abscheuliehkeit eines Herzens darzustellen. welches mit