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Berichte
und Kritiken.
uusrigen dürfte zu interessanten Resultaten führen; so weit eine solche aus
Beschreibungen oder Abbildungen möglich ist, möge sie hier folgen.
Zuerst erwähne ich eines Kupferstiches von W. Hollar, mit der Jahr-
zahl 1650 und mit folgender Unterschrift: Johannina Vesella Pic-
tressa, filie (sie) prima da Titiano. Franciseus van den Wyngartle
excudtt. Ex collectione Johannis et Jacobi van Verle. Es ist hier nicht
mein Zweck, über diese Nachricht von einer älteren Tochter Tizians,
Johanna, und dass dieselbe eine Malerin gewesen, Untersuchungen anzu-
stellen; bekanntlich wird dies von den Neueren als ein Mährchen betrachtet,
und nur von einer Tochter des Tizian, Cornelia oder Lavinia, Gemahlin
von Cornelio Sarcinello, gesprochen. Die auf dem in Rede stehenden
Kupferstich Dargestellte gleicht in der Stellung im Allgemeinen dem Ber-
liner Bilde, indem sie mit beiden Händen eine Schüssel mit Früchten bis
etwa zur Höhe der Stirn emporhebt und über die Schulter nach dem
Beschauer zurüekblickt; doch unterscheidet sie sich von jenem zuvörderst
durch ein verändertes Costüm, indem sie mit einer Art idealer Tunika
bekleidet ist, welche durch einen, tief, über den Hüften, befindlichen
Gürtel zusammengehalten wird; kurze, hängende Aermel zeigen den Arm
entblösst, und der Schleier, welcher über den Nacken zurückfällt, hat vol-
lere Massen. Das Gesicht hat ungefähr dieselben Hauptfurmen, der Mangel
eigentlicher Aehnlichkeit mit unserem Bilde dürfte, möglicher Weise, als
ein Fehler des Kupferstechers zu betrachten sein; das Haar ist im Wesent-
liehen auf gleiche Weise geordnet, doch ist es lockiger und ohne Schmuck,
Wichtiger aber dünkt mich sodann die Verschiedenheit, welche in der Art,
wie die angegebene Stellung aufgefasst ist, bemerkbar wird. Während die
Fruchtträgerin in dem Berliner Bilde sich stark hintenüberlegt, während
sie an der grossen ehernen Schüssel entschieden schwer trägt und dieselbe
fest auf den Haudiläclien ruhen lässt, während sie in einer lebhaften, aber,
ich möchte sagen, rhythmisch feierlichen Bewegung luegrilien ist, steht die
andere in dem niederländischen Kupferstieh gerader, ist ihre Bewegung
durchaus minder heftig, trägt sie bei weitem leichter und nur mit den
Fingerspitzen. Diese absichtliche, schon mehr gesuchte Zierliehkeit, welche
eigentlich nicht wohl zu der schweren Schüssel und zu der Naivetät eines
originalen Kunstwerkes passt, lässt mich vermutheu, dass das Bild, dem
der Kupferstich entnommen, vielleicht nur eine Nachahmung (nicht eigent-
lich Kopie) eines Tiziaifschen Originales sein mag Uebrigens ist zu bemer-
ken, dass im Grunde des Kupferstiches nur eine leichte Schattirung ange-
deutet ist und in der Schüssel nur zwei grosse Melonen befindlich sind; in
dem Berliner Bilde wird der Hintergrund auf der einen Seite durch eine
Mauer und einen rothen, emporgehobcnenVorhang, auf der andern Seite durch
die Aussicht aus einem Fenster in eine hüglige Landschaft gebildet, auch
trägt sie in der Schüssel Trauben, Feigen, kleinere Melonen, Rosen u. s. w.
Ein zweites, dem unsrigen verwandtes Bild befindet sich in der Gemälde-
Sammlung des Hrn. Coesvelt zu London. Passavant, in seiner "Kunstreise
Üllrßh England und Belgien" (S. 82) sagt darüber Folgendes: „Die Tochter
des Tizian eine Schüssel emporhaltend, halbe Figur. Es ist dieses eine
vorzügliche Originalwiederholung oder vielleicht auch das erste Bild von
mehreren ähnlichen bekannten dieser Art. Die Farbe daran ist von vorzüg-
licher Schönheit und Kraft, und das Bild ist vollkommen erhalten."
Ein drittes befand sich früher in der Gallerie Orleans. Die Descrip-
tion des tableazw du palais royal, Paris, 1727, gicbt (p- 472) folgende