Volltext: Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte (Bd. 1)

Wimpfen 
steinstatuen von ausgezeichneter Arbeit:_ der Heiland mit den beiden 
Schächern. Der Schächer zur Rechten, ein herrlicher Kopf, nackt und nur 
mit einem dünnen Schurz bekleidet, die Lenden zerhauen; der zur Linken 
in reichen gepufften Kleidern. Zu den Füssen des Heilandes die klagende 
Madonna und Spuren eines Johannes. 
Auch Wimpfen im Thal hat eine merkwürdige gothisehe Kirche 1). 
Die Grundrissform bildet, wie in der Regel, ein lateinisches Kreuz. Das 
Schiff ist höher als die SeitenschitTe. Die Westthürme sind alt, byzanti- 
nisch, zum Theil mit einfachen rundbogigen Verzierungen, an deren zweien 
Spitzen kleine Köpfchen bangen. Diese 'l'hürme sind aus schwarzem Schiefer 
gebaut; der übrige Theil der Kirche, wie die vorige in Wimpfen am Berge 
und die folgende Coruelienkirche, von gelbem Sandstein. (Die Gebäude in 
dem nahe gelegenen Heilbronn, sowie weiter abwärts am Neckar, gegen 
Ileitlelberg zu, bestehen dagegen durchweg aus rothem Sandstein.) Die 
Ostthürme, in den Ecken von Chor und Querschiff, sind gothisch, der süd- 
liche aber unvollendet. Zu den Seiten dieser Thürme, an den Flügeln 
des Querschiffes, treten gen Osten kleine Chörlein hervor, ähnlich dem in 
der Flucht des Mittelschiilles liegenden Ilauptchor der Kirche. Die Strebe- 
pfciler der Seitenschiffe hatten auch das Gewölbe des Hauptschitfes durch 
freie Bögen stützen sollen , doch ist von diesen nur einer vollendet. An 
der Westseite war früher ein grosses Portal oder eine Vorhalle, was aber 
bisauf die Spur der frischer übertünchten Wand verschwunden ist. An 
der Südscite des Kreuzes ist ein prächtig verziertes Portal, leider aber nur 
bis zum Dach vollendet: über der Thür ein hohes Fensterß, zu dessen 
Seiten scheinbare Durchbrechungen und Statuen unter Baldachinen. 
Auf der Nordseite ist ein Kreuzgang, ohne Gewölbe und nur flach mit 
Brettern gedeckt: aber die- Seite nach dem innern Hofe zu wird durch die 
zierliehsten gothischen Bogenstellungeu gebildet. Auf dem jetzigen Gottes- 
acker in diesem Kreuzgange steht ein hoher hVeissdornbauln. „Den habe 
ich in meiner Jugend selbst dahin gesetzt alsiein dünnes Reis," sagte der 
Messner, welcher mich führte. Nach einigen Fragen erzählte er mir fol- 
gende Sage von dem Baum. 
„Vor langen Jahren lebte hier ein Messner, einer meiner Vorgänger, 
wi'r1lclicn_ der Himmel mit einer schönen und wackern Tochter erfreut hatte. 
Aber welch Glas zerbricht nicht, wenn man's nicht sorgsam trägt? Das 
Mädchen ward Mutter; Niemand wusste, wer der Vater ihres Kindes sei, 
und Sie blieb hartnäckig bei ihrem Vorsatz, keinen zu trennen. Sie kenne 
ihre Schuld und ihre Strafe, sagte sie, und wolle Alles allein erdulden; 
sie habe es wohl verdient, dass er sie Preis gebe. Der alte Messner aber 
klagte, ob aus gegründetem Verdacht, weiss ich nicht, einen jungen Hirten 
an, und dieser ward vorgeladen. „So wahr diese Schippe nimmer ein 
Baum werden wird, so wahr bin ich der That nicht schuldig!" also rief 
er aus, und stiess mit den Worten die Schippe, die er in der Hand trug, 
in den Boden. Aber siehe da! er vermochte sie nicht wieder heraus zu 
1) Die Kirche ist in der Zeit zwischen 1262-1278 gebaut, und zwar, wie 
ein ziemlich gleichzeitiger Bericht sagt: „opere Francigeno,"  in französischer 
Weise. Dies ist ein wichtiges Zeugniss dafür, dass die Thatsachs der Uebersie- 
delung des sogenannt gothischen Baustyles aus Frankreich nach Deutschland aUVll 
von den Zeitgenossen als solche amfgefasst ward. Vergl. F. li. Müller, Beiträge 
zur teutschen Kuust- und (iesohichtskunde etc l, S. 74, 
Kugler, Kleine Schriften. I. 7
	        
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