56 ANFÄNGE IN VENEDIG. CAP. III.
Rom,Gal. Rose, unter ihrem Arm die zum Schweigen verurtheilte Man-
B'"ghe5e' doline. Während man diese Figur anschaut, vergisst man, dass
der Maler für ihre Stellung die Erklärung schuldig geblieben
ist, ja man hat kaum ein Auge für die falsche Zeichnung der
Hand; so vornehm erscheint sie in ihren seidenen Gewändern;
ihr Busen ist mit so zartem weissem Stoff verhüllt, Taille und
Schoos so schön in Atlas mit grauen Reilexen drapiert, der rothe
Gürtel mit dem juwelenbesetzten Schlosse, die reichen Bauschärmel,
der Rosenstrauss in ihrer bedeckten Hand, Alles stimmt voll-
kommen zusammen. Nicht ohne Anflug von Geiallsucht oder
Geschmack an lebhaften Farben ist das kastanienbraune Haar
des nackten Mädchens in einen rosenfarbenen Schleier zusammen-
geknüpft, das Tuch an ihrer Hüfte glänzt in dem goldigen Weiss,
das die noch goldigere Reinheit der Haut nur steigert. Die Seide
des von ihrem Arm herabtallenden und zum Theil in der Luft
ilatternden Tuches hat jenen hochrothen Ton, welcher in der
Modulation seiner Oberfläche so wunderbar ins Carminfarbige spielt
und durch seine Brechungen den ebenmässigen Perlton des Flei-
sches erst recht zur Geltung bringt.
Was die Geschichte von Tizian's Verbindungen und Studien
während der Jugendzeit zu berichten vergessen hat, das enthüllt
uns diese Gruppe. Als er das Bild componierte, war er zwar noch
jung, aber ein Meister, welcher die harten Proben der Schule
hinter sich hatte, geschickt als Componist, aber nicht weniger
bedeutend als geschmackvoller Colorist, ausgezeichnet aber vor
allem darin, dass er mit sorgfältigstem Studium der Alten die
innigste Vertrautheit mit der Natur verband. Die Natur war in
der That schon die eigentliche Herrin seiner Phantasie geworden.
Es mag wahr sein und kann vielleicht als gerechter Vorwurf gegen
ihn erhoben werden, dass er, der die Antike so gut kannte, nicht
den geringsten Versuch gemacht hat, das zu erreichen, was den
Griechen als Ideal in der Kunst galt. Im Gegensatz dazu sehen
wir ihn in jeder Phase seiner Kunst, schon zur Zeit der schönen
„Venus von Pardo" (richtiger Antiope und Jupiter im Louvre),
den warm pulsierenden Reiz des Lebens der erhabeneren, aber ab-
gekühlten Vervollkommnung vorziehen, wie die ilorentinische Schule