CAP.
EH
CHRISTUS
DER
S. ROCCO.
zu Grunde oder vermochte Vasari selbst nicht zu unterscheiden,
mit welchem Meister er es zu thun hatte? Er äussert allerdings
auch Zweifel bezüglich anderer Bilder von Tizian. Die Beurthei-
lung des Christus in S. Rocco bietet jetzt in der That grosse
Schwierigkeiten, da die Zeit und die Unvernunft der Menschen sich
an dem Werke versündigt haben. Imposant ist es aber selbst in
seiner gegenwärtigen traurigen Verfassung noch. Es hat den Far-
benschmelz und der Körper zum Theil seine Fleischtinten ver-
loren, aber es bewahrt noch immer edles Gleichgewicht von Licht
"und Schatten und zeigt den geistvollen Pinsel eines Malers, der
in keiner Weise dem Giorgione nachsteht. In einer Beziehung,
und nur in dieser einzigen, dürften wir vielleicht einen Beweis
von Tizian's verhältnissmässiger Unerfahrenheit erkennen.
Von den vier Figuren des Bildes sind zwei Zuschauer; einer
rechts im Dunkel des Hintergrundes, der andere links deutlicher
hervortretcnd. Zwischen beiden zieht ein roher Henkersknecht
den Heiland, der sich unterm Kreuze niederbeugt, am Strick.
Der Erlöser selbst ragt majestätisch hervor, wie er das edle Antlitz
in concentriertem Lichte dem Beschauer zuwendet. S0 unvergleich-
lich die Gestalt und der über-irdische Ausdruck Christi aber auch
sein mögen, können sie unser Auge doch kaum blind machen
gegen ein gewisses Missiverhältniss zwischen der Grösse des Kopfes
mit den übrigen Figuren, und dieser Fehler ist viel weniger einem
Manne auf der Höhe seiner Kunst, wie Giorgione damals gewesen
sein muss, zuzuschreiben, als einem Künstler," der im Eifer der
Jugend ein Gesetz der Oomposition ausser Acht lassen konnte.
Abgesehen von diesem Mangel ist das Bild mit der Sorgfalt aus-
geführt, die Giorgione auszeichnete, mit einer Meisterschaft und
Breite, aber mit einer Kargheit an Farbenkörper, die durch
und durch giorgionesk ist, und mit einer Zartheit in der Model-
lierung und Mischung, welche grosse technische Geschicklichkeit,
verbunden mit eingehender Beobachtung der Natur verrath.
Indem wir der Laufbahn eines so geistesbehenden Künstlers
nachgehen, werden wir hier wiederum weit über die Tage seiner
Jugend hinausgeführt. Zugegeben, er habe die Bilder in S. Rocco
gemalt, müssen wir dabei- im Auge behalten: erstens, dass er
Venedig,
S. Rocco.