CAD. III. KLEINE MADONNA IN WIEN. 49
Meister, zu dessen Wesen die Originalität gehört, denn schon im
Beginn seiner Laufbahn wird das, was blosse Nachahmung scheint,
durch individuelle Züge geadelt. Je weiter er fortschreitet, desto
bestimmter und umfassender tritt seine Eigenart hervor, die so-
genannten imitativen Elemente in den Hintergrund.
Zuerst schüchtern und kalt, erwärmt er sichtlich an der vor
ihm liegenden Aufgabe. Sorgfalt und Vollendung bleiben, aber die
Gaben des Coloristen, welche allmälig mit ins Spiel kommen,
sind das Resultat eines festeren und männlicheren Ertassens der
Ursachen, auf welche auch die dem Antonello eigenthümliche
Glätte und die Harmonie der Werke Giovanni Bellini's zurück-
zuführen sind. Wir maassen uns nicht an, die chronologische
Reihenfolge der Eindrücke dieser Periode Tizialfs zu unterschei-
den, welche seine Einsicht in die Kunstgeheimnisse der venezia-
nischen Vergangenheit oder seine Kenntniss der technischen Fein-
heiten zeitgenössischer Meister reiften. Es ist sehr schwer, auf
einen bestimmten Moment die zeitweiligen Hinneigungen hier zu
hPalma, dort zu Giorgione festzuhalten. Eins nur scheint un-
verkennbar: Palma hat ihmbeständig vor Augen geschwebt,
so offenbar auch andrerseits bei ihm das Studium der älte-
ren Stilarten durch unabhängiges Empfindungsleben und steten
Zusammenhang mit der Natur gemodelt wird. Im schnellen
Umschwunge der Zeit erscheinen mannigtaltige wechselnde Wir-
kungen. Hier iinden wir Weichheit, Glätte und Schmelz ver-
eint mit Reichthum des Tones in Gemälden, die wegen der
grossen Gleichmässigkeit in der technischen Behandlung merk-
würdig sind, dort wieder tritt uns dieselbe Behandlungsweige
entgegen bei kühnerer Pinselführung, absichtlicher Abweichung
des Vortrages. Aber unabhängig davon geht Tizian bald über
die Grenzen hinaus, welche gewöhnlich die religiöse Malerei
einzuengen pflegen. Er bringt Neuheit in die Auffassung einer
Scene, die zu den hochwichtigsten Aetionen des venezianischen
Staates am- Anfang des Jahrhunderts in Beziehung steht, und
er entzückt durch ein Meisterwerk, dessen künstlerischer Werth
vorzüglich darin liegt, dass der Maler es verstand, einen zar-
ten poetischen Schleier über den Gegenstand zu breiten, bei
Crowe, Tizian I. 4