46
ANFÄNGE IN VENEDIG.
CAP
Das Gleiche könnte auch von dem beschädigten Tempera-Bilde
der Jungfrau mit dem Kinde zwischen Roehus und Sebastian in
der Genova-Kapelle der Pieve angenommen werden, da es aber
kein beweisfähiges Stück ist, sondern Zweifel übrig lässt, 0b wir
hier nicht zum Theil die Hand Francesco Vecellfs zu erkennen
haben, so entzieht es sich für jetzt unserer Beurtheilung und wir
haben uns anderwärts nach Jugendwerken von Tizian umzusehen.
In Venedig ist nun allerdings kein Mangel an Bildern, welche
unter seinem Namen gehen, aber ein Blick auf die besten davon
wie „der Durchgang durch's rothe Meer" oder die "Heim-
suchung", beide jetzt im Dogenpalast wird Jeden, der die
Werke des Meisters mit einiger Kritik studiert, überzeugen,-
dass ihre Benennung falsch ist?" Die wahre Spur von Tizian's
frühester Art und Weise finden wir in einer kleinen Madonna
des Belvedere zu Wien, und dieses Bild wirft ein bedeutendes
Licht auf seine erste Entwieklungs-Phase.
Sammlung Curtoni in Verona; letzteres war jedoch nicht Einzelbild, sondern ent-
hielt Tizian's Mutter und einen Neffen (s. Ridolü a. a. O. und Campori, Raccolta
di Cataloghi, Modena 1870, S. 201).
21 Der "Durchgang durch's rothe Meer" und das Seitenstuek „Christus in
der Vorhöllc" waren dem Boschini nicht unbekannt; er erwähnt sie in seinem
Ricche Minere, zweite Ausg. Venedig 1674, in dem Abschnitt Sestiere S. Marco,
S. 18, und zwar hingen sie damals im Dogenpalast in dem Gange, der aus der
"Stanze. del Collegio" zur Dogenkapelle fuhrt; zu seiner Zeit galten die Bilder für
Arbeiten aus Tiziaifs Schule. Nach ihrer zeitweiligen Versetzung in den Palazzo
reale war der „Ohristus in der Vorhölle" dem Giorgione, das „R0the lileer" dem
Tizian zugetheilt. Die Verf. haben bereits in ihrer Geschichte der ital. Malerei,
deutsche Ausg. IV. S. 202 und 266, die erstere Composition dem Pellegrino da S.
Daniele zuthoilen zu müssen geglaubt, sie halten die zweite für das Werk desselben
Malers. Es ist ein kleines Leinwandbild mit zahlreichen Figürchcn von keekem
Vortrag, aber durch's Alter schadhaft und düster geworden und piirsichroth im
Gßsammtloll- Die "Heimsuchung" (früher Nr. 35 der Akademie, ehemals
im Kloster San? Andrea) ist Leinwandbild mit grossen Figuren, deren Mehrzahl
jßdüßll unheilbar beschädigt sind; der Kopf des heiligen Joseph ist sogar gänzlich
11611- Die Zeißhllllng hat zwar moderne Kühnheit, aber keine Sorgfalt, was nament-
lich an Händen und Füssen auffällt, und die Köpfe sind durchaus schwach; die
Farben hart und unharmonisch. Zieht man die Unbilden ab, die das Bild durch
Reinigung, Glättung und Uebermalungen erfahren hat, so scheint es der Manier
Sebastian del Piombds naher zu stehen, als der des Tizian, obwohl es für den
Einen wie für den Andern zu schlecht ist.