38
ANFÄNGE
IN VENEDIG.
CAP. III.
Tizianello glaubt, Tizian sei nach Venedig gekommen, um
seine Studien fortzusetzen, Vasari und Dolce sind dagegen der
Meinung, er habe hier erst den Anfang damit machen wollen.
Wie dem auch sei, der Ort war für beide Fälle gut gewähltf
Tizian war zu einem in Venedig wohnenden Verwandten geschickt
worden, in welchem Einige einen Bruder des Gregorio, Andere
einen Bruder der Lucia_ Vecelli vermuthen? Der Mann liess es
sich sofort angelegen sein, den Knaben zu einem Künstler in die
Lehre zu geben. Und hier verlässt ihn die venezianische Ge-
schichte und nimmt von seinem Treiben und Thun nicht eher
wieder Notiz, bis er aus dem Schwarme der Mitstrebenden her-
vortaucht und als ein Meister im Fondaco de' Tedeschi er-
scheint. In den venezianischen Annalen findet man gar viele
derartige Lücken, aus denen sich der Beweis erbringen lässt, wie
sehr der Erfolg eines Menschen die Augenzeugen zu blenden ver-
mag, sodass sie, ganz und gar von der Gegenwart erliillt, nicht
daran denken, seiner Vergangenheit und den Bedingungen, unter
welchen er sich entwickelte, nachzuforschen. Derartige Unter-
lassungssünden des sechszehnten Jahrhunderts im neunzehnten
wieder gut machen zu wollen, würde, wenn auch nicht durchaus
unmöglich, doch ein sehr schwieriges Unterfangen sein; hatten
doch selbst viele von Tizian's Zeitgenossen nur Vermuthungen,
aber keine Thatsachen über seine Jugendjahre zu berichten ver-
mocht.
Vasari erzählt in seiner kurzen Weise, Tizialfs Lehrer sei
Giovanni Bellini gewesen, er sei jedoch nach kurzer Zeit Nach-
ahmer des Giorgione geworden? Solche unbestimmte Angaben
können Niemanden befriedigen. Dolce ist ein klein wenig aus-
iührlißhßlä Nach seinen Mittheilungen ist Tizian zunächst zu einem
venezianischen Mosaikarbeiter Namens Sebastian Zueeato gekom-
' Vasari-Ilem. XIV. S. 18. Dolce, Dialoge, S. 63.
2 Zum Schaden der wichtigen Fragen im Jugendleben Tiziaxfs hat man sich
von jeher zu viel bei Unerheblichkeiten aufgehalten. Vgl. Tizianellzfs Anon. S. 3;
Dolce, Dialogo, S. 63 und Vasari-Lem, XIII. S. 18.
3 Vasari, XIII. S. 18.