ZWEITES
CAPITEL.
Tizian's
Heimath
und
Herkunft.
Von der Höhe des Markusthurmes kann man bei klarer Luft
die venezianischen Alpen gespenstisch, halb in Nebel gehüllt,
über den Gewässern der Lagunen leuchten sehen. Hoch jiber
die zackige Kette ragt der Antelao empor, der, fast achtzehn
Meilen entfernt, die Thalschluchten von Oadore beherrscht.
Tizian's Heimath Cadore ist ein Gebirgsländchen, von der
wilden Piave durchflossen, die, in den Kärnthner Alpen entsprin-
gend, beiPorto di Cortellazzo ins adriatische Meer fällt. Erst
in neuester Zeit durch Eisenbahn den Reisenden zum Theil er-
schlossen, ist der Weg, welcher von Venedig über Mestre und von
dort durch Conegliano und Longaronc mit seinen steinigten Fels-
klausen nach Pieve führt, eine der Hauptadern des Verkehrs
zwischen der Piave und Drave. Bei Pieve di Cador wendet er
sich durchs Ampezzancr-Thal östlich am Fusse des Antelao ent-
lang, westlich am Pelrno hin, klimmt hinter Bottestagno über die
Höhen und trifft auf die Quellen der Drave, die nach Klagenfurt
iiiesst. Cadore ist'ein tief in die Alpen gezwängter Grenzdistrikt,
unmittelbarer Nachbar Tirols; da es jedoch südlich von dem
Kamme der karnischen Alpen liegt und durch seine Flüsse auf
das adriatische Meer hingewiesen ist, hatte es stets italienische
Neigungen. Bereits im elften Jahrhundert finden wir die Land-
schaft in der Botmässigkeit der Patriarchen von Aquileja, die
durch einen Lehnsgrafen regierten; aber die Cadoriner rühmten
sich einer Stadtverfassung, die sie fast zu Herren ihrer selbst