ÜAP.
DER ZEITGENOSSEN.
URTHEIL
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er das Real-Mechanische verbarg. Keine blosse Nachahmung, son-
dern eine Verkörperung des durch klare Einsicht in Ursache und
Wirkung erzielten Naturverständnisses war diese Kunst; sie löste
der Erscheinungswelt die Zunge, sodass sie verkündete, was im
blossen Schein der Dinge verborgen liegt. In allen Zeiten wurde
Tizian dieser hohe Vorzug zuerkannt, 'aber er gelangte wie ge-
wisse Blurnenarten erst in seinem Lebensherbst zur vollen Blüthe.
Als Lodovico Dolce i. J. 1538 seine Paraphrase der sechsten
Satire des Juvenal dem Maler widmete, erhob er die Kunst des
Poeten über die seinige, weil Tizian's Porträts trotz ihrer Voll-
kommenheit doch. den Odem des Lebens entbehrten, während
JuvenaPs Gemälde kein Abbild des Lebens, sondern das Leben
selbst sei. Andere Schriftsteller gingen noch weiteiam Es gab,
wie Vasari sehr richtig sagt, eine Zeit, wo der Meister seine
Arbeiten mit einer solchen bis ins Einzelste gehenden Sorgfalt aus-
führte, dass sie die Betrachtung aus jedem Abstand vertragen. In
einer späteren Periode waren seine Pinselstriche und sein Farben-
auftrag für eine genauere Betrachtung nicht geeignet, aber in der
Brennpunktsentiernung Waren sie vollkommen wirksam und mit
einer so erstaunlichen Geschicklichkeit gemacht, dass die dar-
gestellten Seenen wirklich zu sein schienenf") „Tizian hat drei
Leben", sagt Pino, „ein natürliches, ein künstlerisches, das dritte
ist ewigfm „Seinen Gestalten fehlt einzig die Stimme u, erklärt
Biondo, „in allem Andern sind sie die Natur selbst"? "Die
Natur dankte zu Tizian's Gunsten ab" ergänzt Ridolfi „und
empfing ihre Gesetze durch seinen Pinselfws „Tizian's Kunst
glich in allen Dingen der Natur", erklärt Boschini; „seiue Säug-
linge nährt Milch, er webt die Steife; bei ihm bewegen sich die
Arme; er versetzt Bäume, Hügel und Ebenen in sein Gemälde;
seine Thiere scheinen gerade erst aus der Arche hervorgegangen;
59 Die Widmung, Padua, 10. Oktober 1538, wurde mit der Ausgabe der
Satire gedruckt (Venetia, presso Curzio Navö) und wiederabgedruckt bei A. Maier,
della imitazione pittoriea, Venedig 1818, S. 346.
so Vasari XIII. 39.
51 P. Piuo, Dialoge di pittura, Venedig 1548, fol. 23 v.
62 s. Mich. Ang. Biondo: della nobilissima pittura, Venedig 1549, cap, 17.
63 Ridolü , Maraviglie I. S. 195.