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TlZlAN'S
STELLUNG
UM 1535.
gesellschaftliche Geltung, die in der Geschichte seines Berufes
rast ohne Beispiel ist. Mit Ausnahme Albertfs, RaiaePs und
Michelangelds hat kein Künstler je sich einer solchen Stellung
erfreut. Während aber Alberti's Wirken sich auf den kleinen,
wenn auch gewählten Kreis der Florentiner Humanisten be-
schränkte, hatte Tizian seine Freunde in allen Klassen; während
Rafael in der Blüthe seiner Jugend vom Tode hinweggerafft wurde,
schuf er aus unversiegbarem Lebensborn, überlebte die Jahre der
jugendlichen Freuden und Genüsse und hatte gelernt, im Verkehr
von Mensch zu Mensch zu geben und zu nehmen; ungleich Michel-
angelo, dessen erhabener Geist nicht blos in seinen künstlerischen
Werken, sondern ebenso in seinen Aeusserungen als Denker und
Dichter angestaunt wurde, aber in unnahbarer Einsamkeit be-
harrte, liebte Tizian die Geselligkeit und gab sich gern ihren
Freuden hin. Er besass die so wenigen Menschen eigene Fähig-
keit, seine Zeitgenossen, welcher Gesellschaftsstufe sie auch an-
gehören mochten, zu bezaubern, und wenn er Feinde hatte, so
durfte er füglich eben nur die menschliche Natur anklagen, die ein
nahezu vollkommenes Glück nicht ohne Neid mit anzusehen ver-
mag. In ganz Venedig. gab es nicht Einen Künstler, der hoffen
durfte, ihm an die Seite gestellt zu werden, und Niemand hat
dies glücklicher bezeichnet, als Vasari, wenn er bemerkt: „Tizian
hatte Nebenbuhler in Venedig, aber keinen, der mehr Talent be-
sass, keinen, den er nicht durch seine Vorzüge als Künstler und
seine Weltkenntniss im Umgang mit Hochstehenden niederge-
schmettert hätteßis In der That zeichnete sich Tizian vor der
grossen Menge der Künstler jener Tage besonders durch eine
Eigenschaft aus, die zu allen Zeiten selten ist: er war und blieb
der vornehme Mann.
In einem Alter von 60 Jahren erhob Tizian die Wirkung
seiner Kunst nicht nur zur äusserlichen Aehnliehkeit mit der Natur,
sondern er verlieh ihr zugleich die innerlichen Feinheiten der-
selben, welche so Vielen immerdar ein Buch mit sieben Siegeln
bleiben. Sein Geheimniss war, dass er den Reiz enthüllte, während
58 Vasari XIII.