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STELLUNG
TIZIAN 'S
UM 1535.
Für diese empiindlichen Lücken in der Kenntniss des da-
maligen tizianischen Porträtstils entschädigen nur die glücklicher
Weise geretteten Bilder des Herzogs und der Herzogin von Urbino.
Sie sind 1537 gemalt und befinden sich in den Uftizien in Florenz.
In Franceseo Maria's Antlitz, wie es der grösste Meister seiner
Zeit uns überliefert, liegt vielleicht mehr Charakter als in dem
Porträt Alfonso's von Este. Wir betrachten die grossen schwarzen
Augen, die gebogene Nase und den vorspringenden Unterkiefer
mit der Empfindung, dass wir es hier mit einem Manne der schnel-
len That und heftiger Leidenschaft zu thun haben. Diese Eigen-
schaften waren von der Mutter auf ihn übergegangen, jener män-
nischen Giovanna von Montefeltro, welche sich Cesare Borgia so
tapfer, wenn auch erfolglos widersetzte. Als sie verkleidet aus
dem Schlosse von Sinigaglia entflohen war, hatte sie ihren Sohn
in der Obhut des Andrea Doria zurückgelassen und ihn später an
den Hof von Frankreich geschickt, wo er das ritterliche Wesen
des XVI. Jahrhunderts, wie es in Gaston von Foix verkörpert
war, an der Quelle erlernte. Durch Adoption Erbe des Thrones
von Urbino ermordete Franceseo schon im Alter von siebzehn
Jahren den Geliebten seiner Schwester; als Mann von dreissig
fiel er über den Kardinal Alidosio her und rannte ihm den Degen
durch den Leib. Zwei Mal verlor er sein Herzogthum und zwei
Mal eroberte er es mit dem Schwerte zurück. Er war ein Günst-
ling Karl's des V. und der Venezianer und gehörte zu den wenigen
italienischen Feldherren, welche technische Kenntnisse mit Tapfer-
keit und Schnelligkeit der Ausführung verbanden. Er konnte
reiten trotz Karl dem XIL, wie sein toller Ritt von Pesaro nach
Neapel, von da nach Capo d'lstria und wieder zurück nach Pesaro
bewies. Er war kurz, kräftig und sehnig gebaut, hatte aber ein
galliges Aussehen; Kopf und Kinn waren dicht mit kurzem krausen
Haar bedeckt, alles Fett seines Körpers durch körperliche An-
strengungen aufgebraucht, nur die fein geschnittene Nase von einer
schwachen Schicht bedeckt; unter seinen durchdringend schwarzen
Augen hingen die Unterlider gleich Beuteln auf die lederartigen
Wangen herab. Er war gerade von Capo d'Istria über Pesaro
nach Venedig zurückgekehrt, als der Papst, der Kaiser und die