GESCHlCHTLlCl-VIE
EINLEITUNG.
CAP.
ward, machte den Abstand zwischen dem (zeremoniellen und dem
alltäglichen Leben nur um so auffälligen Bei der Jugend, und
besonders bei der der reichen Stände, waren geheime Liebschaf-
ten sehr häufig. Dürfen die Erzählungen des gesehwätzigen Ritters
von St. Didier ebenso auf das sechszehnte Jahrhundert ange-
wendet werden, wie augenscheinlich auf das siebzehnte, so fanden
die Familienintriguen der Zofen und Mägde, welche den haut-
gout des Gil Bias von Lesage bilden, in Venedig ihre täglichen
Seitenstückef Wenn der Doge Domenico Contarini einstmals
einem fremden Gesandten, der nach dem Grunde fragte, weshalb
die Venezianerinnen die hohen Holzsohlen statt einfacher Schuhe
trügen, zur Antwort gab: „einfache Schuhe seien zu bequemm,
so liegt darin eine feine Andeutung. Männern, welche Mühen
und Gefahren des Intriguenspiels mit Weibern fürchteten, bot
Venedig, wie es scheint, leichteren Erfolg als andere Orte. In
dieser Hinsicht herrschte während des sechszehnten Jahrhunderts
in Italien eine allgemeine Verderbtheit, und Venedig hatte in dem
Rom Alexander's des VI. oder Leo's des X. vollkommen seines
Gleichen; dennoch hat es, ob mit Recht oder Unrecht muss da-
hingestellt bleiben, die Palme der Untugend davongetragen, und
wir werden allerdings sehen, dass Bacchanalien und Maitressen-
porträts in voller Schamlosigkeit von berühmten Meistern der
Lagunenstadt gemalt wurden, lange bevor man dergleichen ander-
wärts in Italien vorfindet. Wir dürfen auch nicht verkennen, dass
der poetische Platonismus Bembo's und die stolzen Verse Tasso's
einen Hintergrund recht gewöhnlicher und unerhabener Art haben,
der besonders widerwärtig ist, und es kann nicht wunder nehmen,
dass die Sittenverpestung, welche aus den frechen Bekenntnissen
eines Aretino spricht, ihre Früchte in dem Libertinismus der Söhne
Tizian's und Sansovinds trug.
4 Le Chevalier de St. Disdier:
5 St. Disdier a. a. O.
et 1a räpublique
La, ville
de Venise,
1680.
Paris