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TIZIAN
KARL
UND
DER V.
CAP.
es ist erstaunlich, mit welcher Kraft er seine Ideen entwirft und
ausführt. Der Bischof sitzt auf erhöhtem Podium, zu welchem
Marmorstufen emporführen. Am Fusse dieser Stufen links sieht
man einen Bettler halb knieend, halb sich emporreckend, um die
Almosen aufzufangen. Seine Lumpen contrastieren ergreifend mit
dem weissen Chorhemd und den rothen Gewändern des Heiligen,
aber weit bemerkenswerther als der Gegensatz der Kleidung ist
der, Welcher sich in Bewegung und Handlung kundgibt:
Venedig, Der Bischof, dem ein Engel mit dem Kreuz zur Seite
steht, hat lesend an seinem Pulte gesessen und wendet sich mit
plötzlichem Entschluss dem Bettler zu, blickt hoheitsvoll auf
das demüthige Geschöpf zu seinen Füssen nieder und lässt eine
Börse in dessen Hand gleiten. Alles bis auf das Kleinste ist hier
berechnet, aber die Farben zu einem Akkord von so reiner Har-
monie gestimmt, dass man weit Wenigeridie einzelnen Tinten als
die Gesammtwirkung wahrnimmt. Ebenso hat Tizian Licht und
Schatten trotz aller Genauigkeit der Abwägung mit solcher Breite
vorgetragen, dass ein brillantes Spiel von Sonne und Atmosphäre
erzielt ist. Die_Formen sind natürlich und gemessen, die Geberden-
spraehe kräftig und verständlich dabei, die Verkürzungen kühn
ohne Zwang, das Nackte untadelig, die Modellierung vollendet.
Tizian hatte damals Rom noch nicht gesehen, umso auffälliger ist
hier wie auf dem Bilde des Petrus Martyr die Ahnung Michel-
angelds in der düsteren Grösse des Johannes, der Anklang an
Rafaells erhabene Tapeten-Figuren in dem Bettler. Majestätisch
und kraftvoll in der Wiedergabe der menschlichen Gestalt, malt
er die Natur in einem Zustande erhöhter Lebensäusserung, aber
ohne irgend welche Ueberspannung. Seine Farben sind pracht-
voll, die Beherrschung der Linien und die Führung des Pinsels
unübertreiflieh. Vor solchen Meisterwerken müssen Künstler wie
Tintoretto, Andrea Schiavone und Paolo Veronese in stummer
Bewunderung gestanden haben, der Erstere angespornt, auf diesem
Wege noch kecker vorzuschreiten, die anderen zur Aneignung
solch' erhabener Realität und zur Uebertragung derselben auf ihr
Stoifgebiet angetrieben. Wäre das Gemälde so gelassen worden
wie Tizian es gemalt hatte, undnicht gleich anderen seiner Werke