CAP. x. ALLEGORIE FÜR DAVALOS.
ÄÜ
Auf Gemälden des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhun-
derts begegnen häufig Zuge, die dem Beschauer von heute un-
ziemlich erscheinen, und das eben beschriebene Bild gehört viel-
leicht zu diesen; allein auf heiligen Darstellungen einer frühe-
ren Zeit und besonders auf Bildern der Verkündigung kommen
Naivetäten vor, die unserer Prüderie noch viel mehr zumuthen.
Tizian erlaubt sich in der Sprache seiner Kunst nicht mehr als
Shakespeare in der seinigen. Auch dürfen wir nicht vergessen,
(lass Melodie und Maass der Verse eines Ariost oft Dinge um-
kleiden, die jeden Leser von heute erröthen machen, der lockeren
Novellen B0ndello's ganz zu geschweigen, die an Indecenz Alles
übersteigen, was jemals von Boccaccio geschrieben worden ist.
Tizian's Bild gehört sowohl als allegorische Darstellung wie als
Werk eines unerreichten Meisters der Farbe zu den entzückend-
sten Leistungen, die je hervorgebracht worden sind. Es vereinigt
sich darin eine solche Süssigkeit des Tones mit so reicher Fülle
der Harmonie und so hoher technischer Vollendung, dass man nur
schauen und bewundern kann. Solches Fleisch, solche Gesichts-
farbe, solche Bewegungen, Blicke von so hingebender Verehrung,
eine solche Resignation in der Haltung und Tiefe im Ausdruck
sind schwerlich noch einmal zu finden. Es kann sein, dass wir
Porträts vor uns haben, aber wer denkt daran, oder wer mag sich
vorstellen, dass dieser volle Griff in die schöne Natur blos einzel-
nen Individuen gilt? Tizian hatte vielleicht im Allgemeinen die
Erscheinung seiner Originale, Davalos und Maria von Arragonien,
in Gedanken, er verklärte sie aber mit dem gewaltigen stilistischen
Instinkt, dessen Geheimniss er allein besass. Wir betrachten nur
die lieblichen Gesichter, die schlanken und eleganten Hände, das
biegsame lebensvolle Fleisch das Auge wandert weiter zu den
glänzenden Formen in dem zarten Dunkel des Hintergrundes
und entdeckt mit jedem Blicke neue Reize. Dass man hier das
von Vasari beschriebene Porträt von Davalos vor sich habe, ist
aus guten Gründen zu bezweifeln, wen aber das Porträt vorstellen
soll, vermag Niemand zu errathen. Merkwürdig genug, dass mit
Ausnahme eines Porträts in Lebensgrösse in der Kasseler Galerie,
welches Tizian's Stil in einer späteren Phase zeigt, aber eine
20'
Kassel,
Galerie.