274 TIZIAN UND ARETIN. Oma IX.
die Wolken, fällt auf das Antlitz des Heiligen, streift die Gestalt
des fliehenden Mönches sowie Kopf und Schultern des Mörders
und spielt "hell leuchtend auf den schwebenden Gestalten zweier
Engelkinder, die von oben auf die Scene herabblicken und dem
Opfer die Palme des Sieges zeigen. Ein Windstoss, der die Wolken
hertreibt, erfasst die Gewandung der Figuren und wirft sie da,
wo sie nicht fest am Körper aufliegt, in malerische Falten. In
dem Lichtgewölk, das an den Gipfeln des Waldes herabglitt, die
Aeste theilweis verbarg, theilweis hervorhob und den natürlichen
Dämmer des Dickichts verstärkte, lag ein übernatürlicher Effekt,
aber der Künstler hatte den Schauer, der das Wunder hervor-
bringt, der Charakteristik des Vorganges dienstbar gemacht, indem
er auf diese Weise Licht- und Schattenmassen und ein Spiel von
Reflexen auf der Figurengruppe zu erzeugen wusste. Wie sehr
ihn auch sein Geschmack an die Einfachheit der Natur wies,
konnte er es doch nicht über sich gewinnen, die landläufigen
Kutten und Mönchskappen nachzubilden. Seine Mönche trugen
zwar schwarze Mäntel und weisse Scapuliere, aber der Wurf
dieser Gewandung war ideal, oder richtiger, ihre Bewegungsmotive
waren so kunstvoll-grossartig, dass sie klassisch erschienen gleich
der Kleidung eines Apostels auf Rafaefs Tapeten. Derselbe hohe
Geist erfüllte aber auch das Physiognomische. Besonders die
Hauptfigur war ein herrliches Charakterbild: zur winkenden Glorie
des Himmels empor-gewandt, für immer getrennt von irdischem
Schmerz und menschlicher Niedertracht, erschien er in all' sei-
nem Elend als Ueberwinder. Wie Gebilde seiner reinen, schon
entschwebenden Seele flatterten die lichten Genien ihm "hoch zu
Häupten, reizvoll bewegte und lieblich gruppierte Knabengestalten
voll Unschuld und Schüchternheit, deren ganze Erscheinung weit
wie Himmelslust von Erdennoth abstach gegen die düstere That,
die da unten geschah. Die Geberde des Mörders, dessen Kopf
scharf im Profil heraustritt, hat zweifellos etwas Gewaltsames,
aber die Anspannung aller Muskeln ist vollkommen naturwahr,
die ganze Gestalt ein prachtvoller Akt. Nichts in dem Bilde er-
innert an die Mühen der Ausführung, alle technischen Voraus-
setzungen sind überwunden in meisterhafter Breite.