DIE GONZAGA.
254 TIZIAN um:
CAP.
VIII.
den Stufen liegenden Schlüssel des Petrus sind kleine, aber spre-
chende Zuthatenx") Hoch oben auf einer Wolkenschicht, welche
die Säulen des Tempels umsäumt, spielen zwei Engel mit dem
Kreuze, und mit dem aussergewöhnlichen Verständniss eines Ma-
lers, der in den Bergen der Alpen heimisch dort die Wolken-
züge studierte, hat Tizian dieselben nicht nur in den manigfach-
sten Lichtabstufungen getönt, sondern auch die Schlagschatten
derselben auf den Säulen zur Anschauung gebracht. Das Licht
fällt auf die Wolken, erhellt den Himmel zwischen den Säulen
und sendet hellen Schein auf die Engel; seinen glänzendsten Strahl
wirft es aber auf die Madonna und das Kind. Er streift die Ge-
sichter der Mönche und das kahle Haupt des graubärtigen Petrus,
lässt die prachtvollen Töne von dessen blauem Untergewand und
gelbem Mantel leuchten und fällt endlich auf die Proüle der
Knieenden. Diesem Lichtspiel stehen grossartige Schattenmassen
bald scharf abgegrenzt, bald mild aufgehellt gegenüber; die Säulen
entlang gleiten sie an der Madonna vorüber auf die unten befind-
liche Gruppe, am Sockel des Thrones hin auf die Stufen der
Plattform, die Standarte der Borgia, die Rüstung des Ritters
und streifen das Profil und das schwarzseidene Gewand Bat'f'o's,
während dessen betend erhobene Hände und weisse Aermel
volles Sonnenlicht empfangen. Ob man den Zug des Lichtes
oder des Schattens analysiert, man begegnet ungewohnten Fein-
heiten; beides ist in ganz gleichem Maasse mit bewundernswür-
diger Breite abgewogen; die äusserste Dunkelheit ist sehr tief
und stark, ohne doch die Durchsichtigkeit zu verlieren; die höch-
sten Lichter sind blendend hell und dennoch gebrochen und leuch-
tend. Das Spiel der weissen Draperie um die Gestalt des Jesus-
knaben ist vonzauberhafter Wirkung. Kaum weniger lehrreich,
als ein Zeichen von Tizian's bis ins Kleinste gehender Natur-
beobachtung, ist es zu sehen, wie die Finger der. Maria, die das
Kind unter der Brust stützt, sich in das noch zart-weiche Körper-
chen eindrücken. Die Modellierung erscheint so einfach klar und
40 Das Wappen der Borgia: rothes Schild mit dem Ochsen, gctheilt durch
ein Feld mit schwarz und goldenen waagrcchten Bändern, darüber die Papstkrone
und die Schlüssel; das der Pesari: blaues Schild, links sieben Keile in Gold.