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TIZIAN
UND
GONZAGA.
DIE
vni.
der beiden Marien. Derselbe Strahl umrahmt die Wolken am
fernen Horizonte mit rothem Saum und steigert den Gegensatz in
dem baumbewachsenen Hügel zur Rechten, in dem sich die Gruft
öffnet, zu fast nächtlichem Dunkel")
Die "Grablegung" beschliesst eine Periode in Tizian's künst-
lerischer Laufbahn, welche mit dem "Zinsgroschen" begonnen hat.
Noch immer erinnert hier die malerische Gestalt des Evangelisten
mit dem wallenden Haar an Giorgione, und Einzelheiten der
Köpfe und Glieder, der Art der Gewandbehandlung, sowie Gegen-
sätze wie die wettergebräunte männliche Haut und die perlgleich
zarte weibliche gemahnen auch hier noch an Palma Vecchio. Aber
an Grossartigkeit der Gesammtwirkung, an Farbenglanz, Adel
und Verhältnissgefühl ragt es weit über Alles hervor, was diese
beiden Meister unseres Wissens je geschaffen, wie es denn über-
haupt an Gluth des Ausdrucks und an Charakteristik der Leiden-
Schaft in der gesammten venezianischen Kunst einzig dasteht.
Neben der Feier des Todes, die der Leichnam ausspricht, und
neben der sorglichen Hast Joseph's ist in der Magdalena eine
Wildheit des Schmerzes, in Maria eine todtestiefe Traurigkeit und
in Johannes ein Aufruhr der Gefühle geschildert, welche dem
Beschauer die Seele erschüttern. Betrachtet man aber die tech-
nische Behandlung, sieht man wie fein die braunen Gesichter
durch den Kummer gebleicht und durch den Sonnenstrahl wieder
erhellt sind, wie ihr Ton gegen den Schein des rothen Haares
sich abhebt, dann erlahmt jede Beschreibung. Ueberall die grösste
Leichtigkeit und erstaunliche Beweglichkeit des Vortrags. Hier
erzeugt der Meister mit transparenten Tönen die Feinheit der
Modulation und den thauigcn Duft der zarten Hautfläche, dort
arbeitet er mit kräftigem Lokalton bei dünnem Farbenkörper
m Paris, Louvre N0. 465, Leinwand, h. 1,48, bT- 2,05 (5- Vinotys Katalog;
in Bathoes Katalog S. 96 ist das Maass mit 4 F. 4 Z. Höhe bei 7 F. Breite an-
gegeben): das Bild ist gut erhalten. Stiche davon sind zahlreich vorhanden: von
G. Rousselet, Chaperon, Masson, Joh. de Marc, Filhol und Landen, Photographien
von Braun. Das" Gemälde steht in einem Inventar des mantuanischen Schlosses
v. J. 1627 verzeichnet, s. d'Arco, dclle arti di Mantova II. S. 160. Die noch zu
erwähnende Copie in der Galerie Manfrin in Venedig, ebenfalls auf Leinwand
und im Maasstabe des Originals, ist kürzlich verkauft worden.