Volltext: Tizian (Bd. 1)

VIII. 
.GRABL_EGUNG' 
LOUVRE. 
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momentaner Bewegung aufgefasst. Die Gestalt des Heilandes 
durchaus edel, kraftvoll und noch im Tode majestätisch; grossartig 
umrahmen dichtwallende Locken und voller Bart das Haupt, Beine 
und Füsse sind scliörngebildet, die ganze Gestalt ist, wenn auch 
nicht gerade ideal und ngottähnlich  so doch von vortreiflichem 
Linienfluss, kurz durchweg Darstellung eines bewusst ausgewählten 
Vorbildes. Wahr und ungekünstelt kommt ferner in den Trägern 
die Anstrengung zum Ausdruck; ihr ernst beredtes Mienenspiel 
kennzeichnet den Ernst der Handlung; und dennoch ist in diesem 
beabsichtigten Gegensatz zwischen dem todten Körper und dem 
kraftvollen Leben vieles phrasenhaft. Joseph und Nicodemus er- 
wecken nur den Schein, als 0b sie sich anstrengten, denn das 
Leichentuch, mit dem sie tragen, zeigt keine Spur von Anspan4 
nung; auch ist es physisch unmöglich, dass zwei Männer in einer 
Stellung wie die ihrige eine solche Last bewältigen. Abgesehen 
von diesen Unzulänglichkeiten, die man freilich erst entdeckt, 
wenn man sich allmälig von dem Zauber freimacht, den das 
Bild im Anfange ausübt, trägt das Ganze durchaus das Gepräge 
der Wahrheit. Die Fehler werden nahezu aufgewogen durch den 
mit echt tizianischer Lebendigkeit über das Bild verbreiteten 
Wechsel von Licht und Schatten oder durch Farbentöne, die in 
ihrer fein berechneten Accentuierung eine Kraft und einen Reich- 
thum ausströmen, wie sie überhaupt nur bei diesem Grossmeister 
venezianischer Malerei möglich waren. Die Reize der Pallette 
und das Helldunkel weiss er auf magische Weise zu gemeinsamer 
Wirkung zu concentrieren und er bringt dadurch beim Beschauer 
Nerven des ästhetischen Genusses in Bewegung, die z. B. ein 
toskanischer Maler niemals in Mitleidenschaft zieht. Aber Licht, 
Schatten und Farbe sind wiederum dem Hauptetfekt der Beleuch- 
tung des Ganzen dienstbar gemacht. Während durch die Gestalt 
des Nicodemus Kopf und Körper des Erlösers in Schatten gehüllt 
werden, fällt grelles Licht eines schnell aus dem windgepeitschten 
Himmel hervorbrechenden und ebenso schnell wieder verschwhi- 
denden Sonnenblickes auf die Beine, einen Theil der Hüften- 
und das blendende Weiss des Grabtuchcs und erhellt das bärtige 
Profil Joseph's, die zarten Züge des Johannes und das Antlitz
	        
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