VII
"VENUS
ANADYOMENE
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biegt sie den Kopf nach dem Beschauer um und schaut ihn mit
einem durchdringenden Blicke an, welcher unwiderstehlich aus
dem nur theilweise durch lange Wimpern beschatteten runden
Augapfel hervorschiesst. Die Bewegung ist vollendet graziös, aber
auch verführerisch, das Antlitz zeigt reines Oval, doch ist die
Physiognomie mehr die eines bewussten als unschuldigen Wesens.
Fülle und Durchbildung des Fleisches sind weiter getrieben als auf
anderen Darstellungen ähnlicher Gegenstände bei Tizian, dabei
macht sich zugleich grössere Feinheit der Modulation, grössere
Zartheit im Wechsel der Abtönungen bei breiterem Vortrag und
satterem Farbenkörper bemerkbar. Trotzdem hat Tizian jedoch
wohl niemals vollkommenere Körperlichkeit mit geringerem Schat-
ten hervorgebracht. Die ganze Gestalt contrastiert in Silbergrau
mit den lichteren Schattierungen des Haares, des Wassers und
des Himmelsfß Ihre Züge gehören einem neuen Modell an, das
an die Stelle der Violante und Flora tritt und abwechselnd zur
Darstellung einer Göttin der Liebe und einer büssenden Magda-
lene dient.
Plinius erzählt uns: als Augustus die "Venus Anadyomene"
des Apelles nach dem Tempel des Caesar gebracht habe, sei das
Bild beschädigt gewesen und den Malern Roms zur Wiederher-
stellung übergeben worden, aber keiner unter ihnen sei im Stande
gewesen, es auszubessern. Auch bei Tizian's meerentstiegener
Venus hat man zu verschiedenen Zeiten Versuche gemacht, ihr
den ursprünglichen Lüstre zurückzugeben. Der Erfolg war eben-
so übel wie vor Jahrhunderten bei ihrer erhabenen Schwester;
man vermochte nur zu verschlimmern, wo man nachzuhelfen
wagte. Mit dem reinigenden Schwamm hat man die Zartheiten
der Modellierung unbarmherzig hinweggewischt.
43 Das Bild, jetzt N0. 19 der Galerie Ellesmere (Leinwand, Figur unter Lebens-
grösse), stammt aus der Sammlung der Königin Christine, wo wir es zuerst erwähnt
finden (s. Campari, Racc. di Cat. S. 341). Es ging in die Sammlung Orlöans über
und wurde i. J. 1800 für 800 f an den Herzog von Bridgewater verkauft (s. Waagen,
Treasures II. S. 31 und 497).