CAP.
VII.
DIE "FLORA" IN FLORENZ. 225
Was wusste aber Sandrart von Tizian's Privatleben; welches
Recht hatte er, die "Flora" zum Range einer Phryne her-abzu-
setzen; oder gehörte sie wirklich zu den Diammerungswesen der
Halbwelt, die Rubens in den tizianischen Curtisanen c0pierte?w
Gleichviel auch dann war sie ein liebliches Ideal, welches
sich hoch erhebt über die Sphären, an die ihr Erdenloos sie zu
fesseln schien. Dieser Adel schöner Sinnlichkeit kann nicht be-
leidigen. Wir belauschen sie beim Ankleiden. Das Haar ist mit
einer seidenen Schnur aufgebunden, so dass es die reizendsten
Bauschen über den Ohren bildet, in kurzen gekreppten Wellen
über den Busen fällt und das ganze Gesicht sowie Hals und
Nacken frei lässt. Es ist Niemand da, der ihr die Spiegel hielte,
doch neigt sie den Kopf und die Augen wenden sich, als ahnte
sie Jemanden, der den Blick auffinge und die Hände nach den
Blumen ausstreckte, denn während sie mit der linken Hand
bemüht ist, - durch ein momentanes Vorstrecken der Finger
die von der Schulter gleitende Mousselinhülle und den darüber-
geworfenen Damast festzuhalten, reicht sie mit der rechten dem
Unsichtbaren eine Handvoll Rosen, Jasmin und Veilchen. Ausdruck
und Formgebung des Motivs sind von einer Lieblichkeit und Rein-
heit, dass man schlechthin an die auserlesensten Antiken erinnert
wird. Bewegung und Typus der "Flora" ähneln dem Mädchen
mit den Spiegeln in hohem Grade und man ist versucht, erstere
für eine Wiederaufnahme und Weiterführung der anderen zu halten;
doch wird man bald inne, dass" dasselbe Modell auch wieder der
schönen nackten Figur am Brunnen im Bilde der Galerie Bor-
ghese und den Mänaden des Madrider Bacchanals entspricht, und
dass die in der Flora kundgegebene Auffassung auf eine frühere
Phase zurückweist, in welcher noch Palma's Einfluss sichtbar ist.
Die klare Lichtskala unseres Bildes zeigt eine meisterhafte An-
wendung des in den „drei Zeitaltern" so wirksam versuchten
Systems, welchem dünner Auftrag der Pigmente, breite Flächen
der Färbung und zarte Schatten selbst des unmerklichsten Halb-
Florenz,
Ufiizien.
of
pictures
„fower
S. 238).
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36 Im Inventar von Rubens aus dem Jahre 1640 finden sich:
Venetian courtesans" nach Tizian (s. Sainsburfs Papers a. a. O.
Crowe, Tizian I.