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WERKE
DER
JAHRE
ERSTEN
NACH
1520.
CAP.
VII.
Künstler lebte, der doch nur selten ihre äusserliche Erscheinung
vorführt. Es lässt sich so wenig von diesem Bacchus wie von
Ariadne leugnen, dass sie in Fleisch und Blut zurückgerufene
Typen des classischen Alterthurns sind, erfüllt von dem Zauber
der Anmuth, deren nur Tizian fähig war. Die Jahrhunderte haben
dem Bilde seine Frische geraubt, Restaurateure haben ihr lliög-
lichstes gethan, die glänzenden Flächen zu trüben, und doch ist
die Wirkung noch heute unwiderstehlich. Reiche Harmonie der
Gewandfarben und zarte Modellierung, Tiefe des Schattens und
warmes Licht Alles verbindet sich, um einen hohen Farben-
schmelz hervorzubringen, und aus diesem Schmelz tritt die Gestalt
Ariadne's leuchtend hervor. Lockender und verschwenderischer
Natur vielleicht nie wieder zu Bilde gebracht
Feinheit bekundet die Ooneentration des Lichtes
ist die
Welche
worden.
auf Ari-
adne, die der Composition allein den Brennpunkt gibt! Welcher
Glanz im Spiel der Farbencontraste, welche Manniohfaltigkeit der
Abstufungen in Luft und Vegetation; wie unendlich ist der Raum
wie wechselnd und doch wie weich die Abstimmung von Licht
und Schatten! Tizian hatte bisher keine Composition geliefert,
in welcher die handelnden Figuren mit der Bühne, auf der sie
erscheinen, so vollständig in Einklang wären. Prüft man das
Bild in diesem Betracht, so begreift man schlechterdings nicht,
dass ein Theil nach dem andern, entstanden ist?" Erstaunt fragt
man sich, woher Tizian dieses Landschaftsmotiv genommen, wo
er die Studien zu dem Vordergrunde gemacht. Am Canal Grande
gab es auch zu seiner Zeit keine Vegetation; man muss vermuthen,
er habe in Ferrara mit botanischer Treue die Iris, die wilde
Rose und die Columbine nachgebildet, die unter den Schritten
seiner Satyrn knicken? Am bewundrungswürdigsten aber ist,
2" London, National-Galerie No. 35, Leinwand, h. 5 F. 9 Z., br. 6 F. 3 Z,
Auf der Vase links bezeichnet „T1c1ANvs F." Das Bild ist (von der Gegenseite)
radiert von Giovan Andrea Podesta von Genua (1636 in Rom) und von J Juster
1691 gestochen in Jones Galerie-Werk. Es befand sich vordem in den Sammlungen
Barberlm und Aldobranclini in Rom und wurde aus der letzteren i. J. 1806 für
Mr. Buchanan gekauft. 1826 erwarb es die englische National-Galerie von Mr.
11311116211; vgl. darüber Ridolti I. S. 257 und Scannelli, Microcosmo S. 220.
1 vergl. das Vorwort zur zweiten Auflage von Ruskins Modern Painters
S. XXVIII.