CAP.
VII.
ALTARBILD
E
amascß
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Licht, welches nur den Saum des Umrisses bestrahlt, wirft das
Gesicht und die blaue Tunika in einen reichgetönten Schatten
voll feinster Mannichtaltigkeit, gibt den Flächen und Verkürzungen
zarteste Abstufung und macht, obwohl klarer Aether den. Hinter-
grund bildet, auch die leisesten Wandlungen im Ton der Stoffe
noch genügend erkennbar. Wir stehen nicht an, den Geist, der
sich auf dieser Stufe venezianischer Kunstentwicklung verkündet
und der in unserem Bilde eine gewisse Verwandtschaft mit Rafael
hat wir denken an die „Befreiung des Petrus" im Vatikan
auf gleiche Höhe zu stellen mit demjenigen, den die classische
Kunst Griechenlands offenbart. In späterer Zeit wurde Tizian ein
weit rückhaltloserer und kühnerer Naturalist, aber gewinnender
war er nie. Die Meisterschaft, mit der seine Pigmente behandelt
sind, der Reichthum, die Tiefe und Durchsichtigkeit seiner Farben
sind unübertroffen.
Die Gegenfigur der Jungfrau hat nicht so schmelzenden Glanz,
ist aber voll milder Heiterkeit, 'ein Profil, in welchem Ehrfurcht
und Ruhe einen wirksamen Contrast zu der offenen Freudigkeit
des verkündenden Engels bilden. Bewunderung erregt endlich
das Feld, auf welchem Averoldo und seine Schutzheiligen dar-
gestellt sind; sowohl das Porträt wie auch die Behandlung der
Stoffe schwarze Seide gegen Stahlpanzei- abgehoben ver-
dienen vollendet genannt zu werden.
Tizian schmeichelte sich, der Sebastian unseres Bildes sei
das Beste, was er je gemalt habe, und die öffentliche Meinung
in Venedig pflichtete ihm bei, wie denn auch zahlreiche Copien
den nachhaltigen Eindruck bestätigen, den diese Figur auf Künstler
und Laien gemacht hat. Gleichwohl ist es keine Ketzerei, wenn
man den eigenthümlichen Grund dieser Bewunderung in der Kühn-
heit des Malers und in der Neuheit des Versuches findet, eine
antike Statue in einen christlichen Heiligen zu verwandeln. Im
ersten Entwurf war der schöne Märtyrer nicht an einen Baum,
sondern an eine Säule gebunden. „Der Körper" schreibt Tebaldi
an den Herzog von Ferrara „_ist mit einem Arm in der Höhe
gefesselt, der andere tief hinunter an eine Säule; die Gestalt
bewegt sich in einer Weise, dass beinahe der ganze Rücken
Crowe, Tizian l. 14