Volltext: Tizian (Bd. 1)

CAP. VI. 
Ei 
BACOHANAL" 
MADRID. 
189 
die nunmehr in Ferrara zu vollendende Composition das jetzt in Ihdrid. 
Madrid beflndliChe "Bacchanal" War. Dargestellt ist eine Scllaarbhißsäoaäel 
Mänaden, die mit ihren Genossen eine Orgie feiern. Die schlum- 
melnde Frauengestalt im Vordergrunde und das Motto in fran- 
zösischer Sprache waren vermuthlich nach Alibnsds besonderer 
Angabe ausgeführt. Erst seit kurzer Zeit hatten die höheren 
Klassen der italienischen Gesellschaft die Bekanntschaft der Dieh-  
tungen Ovid's und Catulfs gemacht, aber schon zeigten sie das 
lebhafte Verlangen nach bildlicher Verkörperung der malerischen 
Scenen, welche dieselben darboten. Ilänfig erweiterten und ver- 
änderten jedoch die Maler die Fabeln der Dichter, und es ist 
nicht unwahrscheinlich, dass man Wandmalereien und Reliefs, von 
denen manche sich bis auf unsere Zeit erhalten haben, als Hilfs- 
mittel benutzte, um die Phantasie des Künstlers anzuregen. In 
den Ruinen von Pompeji sieht man Ariadne an der Küste eines 
felsigen baumlosen Eilandes schlafend" liegen, während Theseus 
mit seinen Schifen von dannen segelt. Auf einem Basrelief im 
Vatikan bewundert Bacchus, dessen Wagen von einer Centaurin 
gezogen wird, die schlummernde Schöne. Die Figur im Vorder- 
grunde unseres „Bacchanals" ist nicht im Geiste der pompeja- 
nischcn Malereien gehalten, die ja Tizian und seine Zeitgenossen 
noch gar nicht gekannt haben, wohl aber kann die Stellung 
und die Haltung der Arme die Annahme rechtfertigen, Ariost oder 
Alfonso hätte ein klassisches Meisterwerk gesehen und sich eine 
Zeichnung davon aus Rom verschaift. Es ist merkwürdig, dass 
dieselbe Figur mit leichten Veränderungen schon auf dem „Götter- 
feste" Bellini's in Alnwich erscheint. Fraglich bleibt allerdings, 
0b Alfonso Ariadne unmittelbar nach ihrer Entdeckung auf Naxos 
durch Bacchus dargestellt haben wollte oder 0b es ihm nur auf 
das Bild einer Bacchantin in der Gestalt ankam, welche die 
klassische Kunst der Ariadneverliehen; aber möglich ist immer- 
hin, dass er jene mythologische Seene im Sinne hatte, obgleich 
wir uns unter den handelnden Figuren des Bildes vergebens nach 
einer Gestalt umsehen, die man für Bacchus nehmen dürfte, es 
sei denn, dass man ihn in einem der beiden Zuschauer erkennen 
Wollte, welche auf der linken Seite an einem Baume lehnen.
	        
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