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VI. VERKÜNDIGUNGSBILD IN TREVISO. 187
der Stoifbehandlung und der reichen Architektur, deren Marmor-
Wände mit Reliefs geschmückt sind, endlich am meisten das seelen-
volle jugendschöne Angesicht der Jungfrau mit den leuchtenden
Augen.
Auch in Tizian's Tagen war eine Reise von Venedig nach
Treviso unerheblich: mit der Gondel bis Mestre und von dort ein
paar Stunden zu Pferd. Es ist daher nicht verwunderlich, dass
wir von dieser Fahrt keine besondere Meldung haben. Möglicher-
weise ward das Bild abgeliefert, als Tizian nach Treviso kam,
um in Folge eines an ihn ergangenen Rufes die Fresko-Gemälde
abzuschätzen, welche Pordenone an der Vorderseite des Palastes
Ravagnino ausgeführt hatte. Der Besteller sollte Pordenone für
dessen Arbeit fünfzig Dukaten zahlen und weigerte sich dessen
unter der Behauptung, das Werk sei diesen Preis nicht Werth.
Tizian, auf dessen Schiedsspruch Ravagnino provocierte, über-
zeugte ihn, dass er für eine bescheidene Summe sehr gut bedient
sei. Schon dieser Umstand dürfte dafür zeugen, dass die Be-
ziehung der beiden" Maler, so übel sie später sich gestaltete,
zu jener Zeit noch keinen feindseligen Charakter hattefw
Tizian war inzwischen in jedem Sinne des Wortes in Venedig
ein Mann der Oeifentlichkeit geworden. Die Lobsprüche der zu
den Frari strömenden Menge, die häufigen Besuche, welche Tebaldi
seiner Werkstatt machte, die Ankunft des Herzogs von Ferrara
in Venedig und seine Unterredungen mit ihm, Alles trug dazu
bei, die Signorie daran zu erinnern, dass Tizian so lange schon
der bevorzugt-e Maler des Staates sei, ohne irgend welche Gegen-
dienste dafür geleistet zu haben. Im Saale des Grossen Rathes
war seit Jahren Nichts geschehen und es deutete auch kein An-
39 vgl. Ridolfi I. S. 147 und 229. Er berichtet ferner, Tizian habe an der
Wand des Domes oberhalb der Scuola del Sacramento eine Auferstehung Christi
gemalt. Ueberreste einer aufsteigenden Figur Christi mit der Fahne in der Hand
finden sich zwischen den Fenstern eines Hauses dem Dom gegenüber; unter der
Hauptgestalt sieht man noch Andeutungen von denen der Wachen und seitwärts
schwache Spuren zweier Heiliger. Der Zustand dieser Fragmente macht einen
Schluss auf den Urheber fast unmöglich, jedenfalls kann man das Fresko mit eben-
so gutem oder schlechtem Rechte dem Pennacchi oder einem andern derartigen
Meister, wie dem Tizian zuweisen.