Volltext: Tizian (Bd. 1)

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TIZIAN 
ALFONSO 
UND 
VON ESTE. CAP. VI. 
Als er aber jetzt  in seinem vierzigsten Jahre  diesen 
Gegenstand, der ihm in der Composition des bellinesken Malers 
so wohl gefiel, selbst darstellen sollte, machte er es freilich ganz 
anders. Denn es sind schwerlich grössere Gegensätze zu denken, 
als die Auffassung Previtalfs und Tizian's. Er verlegt den Vor- 
gang in den Portikus eines Palastes, durch dessen Wölbung man 
auf die von orientalischem Himmel überspannte Gebirgslandschaft 
blickt. Aus dem blauen Firmament schiesseh in blendenden Streifen 
Sonnenstrahlen durch Wolken herab auf Maria, die im Vorder- 
grunde des Bildes kniet; gleich einer gescheuohten Taube bebend, 
das wunderschöne Antlitz zurückgewandt nach dem Sendboten 
des Herrn, lässt sie das Buch sinken, das sie soeben an den 
Busen gedrückt, und hält mit der andern Hand unwillkührlich 
den Mantel fest, der abzugleiten droht. Gabriel aber, ein junger 
Knabe, kommt mit ausgebreiteten Flügeln, den Lilienzweig er- 
hebend, hurtigen Schrittes auf sie zu und deutet mit dem Finger 
gen Himmel. Zwischen beiden Figuren wird im Hintergrunde 
Malchiostro sichtbar, bescheidentlich im Schatten am Ende des 
Säulenganges kuieend, dessen Boden mit roth und weissen 
Fliessen getäfelt ist? 
Unwillkührlich regt sich der Zweifel, ob Tizian hier wirklich 
mit ganzem Herzen bei der Sache gewesen ist; aber diese eigen- 
thümlich moderne Fassung des Gegenstandes gab ihm Gelegenheit, 
den Contrast zwischen der bangen Scheu Maria's und dem Eifer 
Gabriels zu schildern, und dieses dramatische Motiv hat er mit 
hohem Reiz zur Geltung gebracht. Nicht minder entzückt der 
Zauber verschwenderischer Vegetation, der über die Landschaft 
ausgegossen ist, das magnetisch klare Himmelslicht, die Pracht 
 
39 Trcviso, S. Niceolö. Holz, Figuren lebensgross. Die Tafel hat sich geworfen, 
sodass verschiedene senkrechte Sprünge hervortreten, glücklicher WVeise oberhalb der 
Köpfe; auch hat das Bild Abputzung und Uehermalungcn erlitten: Maria, in Welssem 
Schleier, rothem Kleid und blauem Mantel, hat Retouchen an der rechten Hand, 
dem rechten Auge und der XVange, die Figur hlalchiostrds zeigt, ausser Nach- 
besserungen an verschiedenen Stellen, Uebermalung an der Stirn, auch die Fusse 
des Engels sind durch frische Farben entstellt. An der Schranke im Hintergrund, 
links von Maria, ist das Wappen Malchiostrds (eine Hund, welche drei Kornühren 
hält, auf blauem Grunde) mit den Buchstaben B. M. darunter angebracht.
	        
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