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TIZIAN
m10 ALFONSO
VON
ESTE.
OAP.
Die Stufenleiter der Empfindungen von bangem Erschrecken bis
zur verzückten Hingebung ist hier durchmessen und dennoch ge-
wahren wir kaum eine Figur unter diesen Aposteln, die nach
antikem Maasstabe beurtheilt, vollkommen Probe hielte. Ent-
kleidete man z. B. den Andreas, dessen kolossale Gestalt den
Mittelpunkt des Vordergrundes einnimmt, seines flammend rothen
Gewandes, so wurde arge Verrenkung an den Tag kommen; Petrus
böte, abgesehen von seinem sehr zweifelhaften Stützpunkt, in
Bezug auf Zeichnung und Verkürzung der Beine, besonders aber
des rechten Knies und Fusses, kaum minderen Anstoss. Aehnliche
Beobachtungen lassen sich auch an der Gestalt Mariais machen,
deren Bewegung geschraubt oder theatralisch genannt werden
könnte. Vergessen darf man dabei freilich nicht, dass die Ge-
berden wohl durchweg an sich zutreffend, d. h. aus ihrem richtig
verstandenen Affekte erklärbar sind. Was sie trotzdem Fehler-
haftes an sich haben, wird durch den blendenden Schimmer der
Farbe, durch das Ineinanderwogen von Licht und Schatten aus-
geglichen; Wenigstens war es zweifellos der Fall, solange das
Bild sich an seinem Bestimmungsorte befand. Denn wo es sich
um ein eigentliches Staifeleibild handelt, das unter verschiedenen
Umständen die richtige Wirkung machen muss wie z. B. die Ariadne
in der Londoner National-Galerie da ist bei Tizian dergleichen
Willkühr ausgeschlossen. Sie rechtfertigt sich, wie angedeutet,
aus den lokalen Bedingungen des monumentalen Altarblattes. Nur
diese und nicht etwa Nachlässigkeit erklären die Abweichungen
vom richtigen Kanon. Treffend und gerecht bemerkt Josua Rey-
nolds: "Tizian wusste bei jedem Gegenstande, den er darzustellen
unternahm, durch ein paar Striche das allgemeine Bild und den
Charakter zu markieren. Seine grcsse Sorgfalt war darauf ge-
richtet, die Massen von Licht und Schatten zu bewahren und
durch Gegensatz die Vorstellung vom nothwendigen Zusammen-
hang Z" geben, Welcher den natürlichen Gegenständen innewohnt. "35
Wir möchten noch hinzufügen, dass Tizian's Vortrag freier und
kecker oder andrerseits sorgsamer war, je nachdem das Bild im
Josua Reynolds, Discourse