17,3
TlZlAN
UND AL FONSO
ESTE.
CAP.
Venedig,
Akademie.
Eine augenfällige Eigenthümlichkeit der "Assunta" liegt in
dem Nachdruck, Welcher den Figuren der Apostel im Vordergrunde
gegeben ist; gleichwohl hat Tizian den Brennpunkt der Composition
erfolgreich auf einen entfernteren-Theil im Gemälde zurückge-
worfen. Man kann bei Photographien gewöhnlich die Bemerkung
machen, dass nahe Gegenstände, und besonders solche, die sich
in unmittelbarer Nähe der Camera befunden haben, eine gewisse
Undeutlichkeit erhalten, Welche das Auge des Beschauers veran-
lasst, sich zu dem darüber hinausliegenden Raume zu Wenden,
wo es auf deutlicher ausgeprägten Gegenständen ruht. Tizian's
künstlerisches Auge lehrte ihn, seinen Gegenstand zu behandeln
wie die Photographie die Natur behandelt. Er machte seinen Vorder-
grund breit und undeutlich; die Figuren desselben sind übernatür-
lich gross, der Rasen hat eine verwischte Farbe mit wenigen
Andeutungen von Grasformen, die Details verlieren sich in weite
Schattenstreifen und geschickt berechnete allgemeine Tonmassen.
Dagegen sind die Engelchöre mit den Wolken, auf denen
die Jungfrau ruht, zwar zurückgerückt, allein die Theile weit
mehr im Einzelnen sichtbar. Noch weiter entfernt und in ver-
hältnissmässiger Undeutlichkeit schwebt der Ewige, umgeben von
Seraphim über der Sceue. So oft Pater Germane den Meister
während der Zeit besuchte, wo er mit dem Gemälde beschäftigt
war, unterliess er nie, zu bemerken, dass die Apostel zu gross
wären, worauf Tizian unveränderlich die Antwort gab, die Grösse
dieser Figuren sei nothwendig für das zum Schmuck einer grossen
imposanten Kirche bestimmte Gemäldefß Indem er aber diese
Erklärung aussprach, war er sich des Unzureichenden derselben
doch bewusst, denn er trug Sorge, die Einwendungen des Guar-
dians durch geeignete Mittel in der Behandlung zu beherzigen.
In der That ist an diesem bezaubernden Gemälde vielleicht das
Merkwürdigste der Gegensatz zwischen der anscheinenden Ein-
fachheit der Resultate und der Kunst, durch welche sie hervor-
gebracht sind.
Die Concentration des Brennpunktes ist durch eine Perspektive
a3 Ridolfi
212.