176
TIZIAN
UND ALFONSO
VON
ESTE.
CAP.
Als höchstes Zcugniss echten Künstlerthums darf bei Tizian
die Beobachtung gelten, dass in allen Werken seines Pinsels die
vollste Uebereinstimrnung zwischen dem Gegenstand und der Be-
handlungsweise herrscht. S0 trägt die „Anbetung der Venus" mit
der glänzenden Manigfaltiglzeit der Abstufung ihrer Töne und dem
brillanten Spiel ihrer Lichter den Stempel heiterer Schalienslust;
die „Lebensalter" erscheinen entsprechend der Ruhe und Tiefe
ihrer allegorischen Bedeutung mild gedämpft durch melodische
Einheit der Farbe und gemassigte Atmosphäre. Wir haben es
jetzt mit einem übernatürlichen Vorgange zu thun, und Tizian
findet auch den von jenseits der Natur erahnten künstlerischen
Ausdruck durch- eine Wirkung von Licht und Schatten, Welche in
magischer Weise dem darzustellenden Gegenstande gerecht wird,
und durch eine Anordnung, die ausschliesslich und vollkommen
für den Ort berechnet war, für den er das Bild malte.
Als Donatello den Auftrag erhielt, die Statue des Evangelisten
Markus für eine Nische an der Kirche Or San Miehele in Florenz
auszuführen, war er genöthigt, das Modell auf dem Boden seiner
Werkstatt herzustellen; dem ungeachtet konnte der erfahrene Künst-
ler gar nicht anders, als sein Gebild, den höheren Regeln seiner
Kunst gemäss, dem Standorte des Piedestales anzupassen, auf
das es zu stehen kommen sollte. Wie nun die Figur in seiner
Werkstatt stand, wurde sie um der oifenbaren Missverhältnisse
willen getadelt, und man drohte, sie ihm gar nicht abzuneh-
men, wenn er diese Fehler nieht verbessere. Er versprach es,
stellte jedoeh zuvor die Statue an die Stelle, für die sie be-
stimmt war, und nun verwandelte sieh der Tadel in die schmei-
ehelhafteste Anerkennung. Die gegenwärtig in der Akademie zu
Venedig befindliche "Assunta" Tizian's erscheint dem Besehauer
unglücklicherweise unter denselben unangemessenen Verhältnissen
wie Donatellds Figur, ehe sie an ihren eigentlichen Standort
erhoben war. Das Bild befindet sieh weder an der Stelle, für
die es gemalt ist, noch hat es das Lieht, was der Maler dafür
im Auge hatte. So geht auf der einen Seite der Contrast zwi-
schen der Klarheit des Himmels und der Düsterheit des Grabes
VCYIOPGII, W0gegen gerade das, was in der Dunkelheit der Kirche