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DIE
RAST
BETHLEHEM'
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Wer die Werke Tizian's mit Eifer studiert, für den gibt
es nichts Verlockenderes, als bei den plötzlichen Wandlungen
sinnend zu verweilen, welche die Manigfaltigkeit der Seelenspiege-
lungen dieses Meisters kennzeichnen. Nachdem man mit ihm unter
Fruchtbäumen auf sonnigen Inseln gewandelt, in denen Eros sich
offenbart, nachdem man in dem klaren Mittag des Paradieses ge-
weilt, in das die „drei Alter" gesetzt sind, wendet man sich und
steht staunend vor dem Zauber der "Rast bei Bethlehem Am
Saume eines breiten Landstriches, an welchem die natürlichen
Wolkengebilde durch magische Gewalt in grossartigster Entfaltung
festgehalten scheinen, ruht die heilige Gruppe. Der Blick schweift
über weite Ebene zu einer Hügelkette, auf welcher Licht und
Schatten- wunderbar spielen. „Die welligen Reihen" sind in den
Vordergrund geschoben, „ jetzt lächelnd im Sonnenschein, jetzt
drauend im Schatten 25, hier wie dort ein Schimmer, der mit seinem
Glanze so Hütte wie Palast berührtßfc Der Tag neigt sich, die
Sonne, welche die grauen Nebelstreifen durchdringt und die fernen
Bergspitzen mit ihren Strahlen vergoldet, ist tief herabgesunken.
Am Rande eines Sees weiden Kühe; Schafe nagen die Stoppeln
ab und der Hirt blickt ergriffen empor zu der röthlichen Wolke,
auf welcher der Engel erscheint, um die Ankunft des Erlösers zu
künden. Auf dem Hügel zur Linken, der theilweis mit Baum-
gruppen bedeckt ist, sitzt die Jungfrau auf stillem Plätzchen und
nimmt aus der Hand des kleinen Täufer-s einen Strauss Blumen
Lon dou,
National-
Galerie.
entgegen, während die heilige Katharina strahlend vor Freude das
auf dem Schooss der Mutter liegende Christkind anschaut."
Tizian hat den Vorwurf hinnehmen müssen und zu Zeiten
wohl auch verdient, dass er kein religiöser Maler sei; in diesem
und Campari (Racc. di eat. S. 443) in der Sammlung Renier in Venedig im sieb-
zehnten Jahrhundert erwähnen, vermögen wir nicht zu entscheiden.
25 s. Gilberlfs Cadore S. 36. 19 Ebenda.
27 London, National-Galerie N0. 635, Leinwand, h. 3 F. 311g Zw bf, 4 F,
71,2 Z., bezeichnet "TICIAN". Es trägt den Stempel des Escurial: T3. Di Titiß,
kam in die Sammlung Coesvelt, gehörte 1720 dem Herzog von Noailles in Paris
und befand sich. ehe es 1860 in die National-Galerie llberging, in der. Sammlung
Baucousin. Bemerkenswerth ist die derbe Zeichnung am Fusse des Täufers und
einige Abputzungen am gelben Kleide Katharinae und am Kopfe der Jungfrau.