CAP.
E
DIE
DREI
LEBENSALTER'
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und selbst wer zweifeln wollte, dass sein Geist eine solche Alle-
gorie zu erzeugen vermochte, wird die vollendete Zartheit und
Weihe des poetischen Gefühls erkennen, womit er sie verkörpert
hat. Bei diesem Gemälde aber fällt ausserdem auch noch die
Einrede weg, Tizian habe unter dem Einflüsse des Laureaten
von Ferrara gearbeitet, denn das Bild ist in Venedig für einen
Privatmann in Faenza gemalt, in dessen Hause es lange Zeit ver-
blieb. Erst im siebzehnten Jahrhundert erhielt es einen Ruf, der
es würdig erscheinen liess, zuerst die Galerie einer Königin und
dann die Sammlung eines englischen Peers, jetzt die des Lord
Ellesmere, zu schmücken.
Die "drei Alter" sind ein Idyll gleich einfach in der Form London,
wie in der Farbe: ein schönes Mädchen sitzt vor ihrem Geliebten
„und das heilige Gefühl jugendlicher Unschuld und Zuneigung
ist in beiden reizend ausgedrückt"? Der Jüngling, ein Schäfer
im ärmlichsten Anzüge, ruht seinem mit Rosen bekränzten Lieb-
chen gegenüber auf dem Rasen, einen Arm um ihre Schulter
geschlungen. Sie blickt ihm in die Augen und zeigt ihm mit
emsigem Ernst die Griffe auf der Rohr-pfeife. Wiederum ist hier
der Grundton der „ unbewussten Liebe" angeschlagen, aber mit dem
feinsten Zartgefühl. Im Mittelgrunde rechts steht Oupido an einem
Baumstamm bei zwei schlafenden Kindern, von denen er eins mit
Fusstritt erweckt, während in der Ferne der behaglichen Landschaft.
ein Greis zwei am Boden liegende Schädel sinnend betrachtet.
Als äusserliche Eigenschaften des Werkes ist Breite der Ton-
gebung, Kargheit des Farbenauftrags und fast gänzlicher Mangel
an Pinselaccenten hervorzuheben. Innerhalb dieses technischen
Rahmens entwickelt Tizian die höchste Durchsichtigkeit und die
vollendetste Vertheilung warmen Schattens und modellierten Lichtes
mit Ausschluss jeder Art von Härte in den Gegensätzen. Es sind -
Schwingungen der zartesten Harmonie, die am besten mit einer
rührenden melodischen Musik verglichen werden können?
22 Waagen, Treasures II. S. 31.
23 Leinwand, Figuren unter Lebensgrösse, h. F., br. 6 F." Im Hintergrund
hinter dem Alten sieht man einen Schäfer, 'der seine Heerde auf der von Wasser
und Hügeln begrenzten Trift weidet, während rechts ein Haus mit nlehreren Bäumen