SECHSTES
CAPITEL.
Tizia-n
und
Alfonso
VOII
Este.
Der Gedanke liegt sehr nahe, dass der erste Auftrag, den
der Herzog von Ferrara einem Meister wie Tizian ertheilte, kein
anderer gewesen sein könne, als das Bildniss seiner Gemahlin.
Die Geschichte hat indess auf die Frage, ob Tizian überhaupt
jemals ein Porträt der Luerezia Borgia gemalt habe, nur eine
sehr zweifelhafte Antwort zu geben. Als Lucrezia i. J. 1503 von
ihrem päpstlichen Vater nach Ferrara geschickt wurde, war sie
schon durch ganz Italien wohl bekannt als die schöne Wittwe
mehrerer Gatten, und man flüsterte sich Geschichten von ihr zu,
die selbst einen hartgesottenen Sünder jener Tage mit Sehaudern
erfüllen konnten. Während der Zeit, rwo sie in Ferrara lebte und
Jahre verhaltnissmässiger Ruhe hatte, kann der wielverleumdeten
Frau jedoch nichts Uebles nachgesagt werden. Dichter und Staats-
männer waren im Gegentheil einstimmig im Preise ihrer Tugend
und ihrer geistigen Gaben. Es ist beinahe undenkbar, dass eine
so schöne, berühmte Fürstin, wie Lucrezia, Tizian nicht gesessen
haben sollte; dennoch ist weder von Tizian's Hand noch von der
Dosso's ein Bild derselben auf uns gekommen, und Alles, was wir
wissen, beschränkt sich darauf, dass angebliche Bildnisse von ihr
durch die geschicktesten Künstler einer späteren Zeit gestochen
worden sind. Aber auch hier erhebt sich die Frage, ob jene
Stiche, deren Originale verloren gegangen, auch wirklich Lucrezia
Borgia darstellen. Nach Ridolifs ausdrücklicher Versicherung soll
allerdings Tizian von Alfonsc von Ferrara aufgefordert worden