CAP.
GIORGIONE
UND TIZIAN.
beziehenden Dokumente erwähnt wird. Trotzdem brauchen wir
jedoch dieser gelegentlichen Ungenauigkeiten halber nicht alles
zu verwerfen, was Vasari und Dolce rüeksiehtlieh Tizian's und
Giorgionds berichten, und dürfen wohl annehmen, dass ihre
Freundschaft; erst bei Tiziaifs Eintritt in das männliche Alter ent-
stand. Der Beginn ihrer gemeinsamen Arbeit am Fondaeo muss
indess in eine viel spätere Zeit gesetzt werden, als ihre
erste Bekanntschaft. Dann lässt sich auch verstehen, wie es
zugegangen sein mag, dass Tizian in einer verhältnissmässig frühen
Zeit den „Schmerzensmann" der" Seuola di S. Roeeo und weiter-
hin ein Bild wie den „kreuztragenden Christus" in der Kirche
S. Rocco gemalt haben sollte. Auch mag es recht wohl der Ein-
fluss eines Barbarigo gewesen sein, der Giorgione veranlasste,
seine Arbeiten am Fondaco mit Tizian zu theilen. Ein Bernardo
Barbarigo bekleidete am Beginne des seehszehnten Jahrhunderts
Wichtige Aemter in Venedig; er hatte den Posten des Obmannes
beim Salzamt inne, als der Fondaco abbrannte, und wurde, als
Franeeseo de, Garzoni dort eintrat, in den Rath der Zehn erhoben."
Auch die angebliche Spannung, die zwischen Giorgione und
Tizian eingetreten sein soll, muss naher erörtert werden. Sie scheint
schlechterdings unverträglich mit der andern Ueberlieferung, wonach
Tizian bei Giorgionds Tode verschiedene von diesem begonnene
Bilder vollendet haben sollßö Andrerseits ist es von Belang, dass
34 Lorenzi a. a. O. I. S. 128-131.
35 Folgende Bilder werden als von Giorgionc begonnen und VOTI TiZißn voll-
endet aufgeführt: Venedig, Casa M. Jeronimo Marcello (1525): "Venus nackt in
einer Landschaft schlafend, mit Cupido, Leinw., von Giorgione, jedoch Landschaft
und Cupido von Tizian vollendet" (Anonymus des Morelli S. 66); Venedig, Casa
Gabriel Vendramin (1530): "der todte Christus auf dem Grabe von einem Engel
gehalten, von Giorgione, aber übergangen von Tizian" (Anon. des Morelli S. 80).
Bemerkenswerth ist die Angabe bei Passavant, Rafael von Urbino, deutsche Ausg.
II- S. 435, K, franz. Ausg. II. S, 370 unter N. 320, Wonach das dort aufgeführte
Bildniss, welches Landen, Vie et oeuvres de Rafael, als Porträt des Alfonso von
Este-Ferrara benennt, in Wahrheit das von Tizian gemalte Bildniss des Giorgione
sein soll (gestochen von Van Dalen), was noch der Untersuchung bedarf. Das Por-
trät, wie es der Stich zeigt, gehört wohl zu den schönsten derartigen Produkten
Tizians; das Haupthaar ist kurz geschnitten, der Bart lang und dunkel, die Linke
hält ein Buch, die Zuge haben eine grossartige Regelmässigkeit und ähneln in
Crowe, Tizian I. 6