KÜNSTLERISCHE CHARAKTERISTIK 43
dass Böcklin da ist und fängt ganz laut und derb an, sich die
Marseillaise zu pfeifen. Aber nach den ersten vier Takten
sieht er irgend etwas, was ihm auffällt, und er hört auf.
Böcklin, der Gottweiss in welcher Grotte unter dem Meere
war, kann, wie die Fortsetzung garnicht kommt, nicht anders
er muss sie weiter pfeifen. Damit kommt er aber auch zu
Bruckmann ins Atelier und sagt ihm: „Herrgott, jetzt hast Du
mir glücklich mein Motiv totgepfiffen!"
Für jeden Künstler, denk' ich, wird das Gewollte, Wer-
dende etwas anderes, wenn es in Form seiner Mittel Gestalt
annimmt und wächst oder zurückbleibt, wenn die Vorstellung
locker und modellierbar bleibt oder auf einem Punkt versteinert.
Die augenblickliche günstige oder ungünstige Stimmung
übt während der Arbeit den grössten Einfluss aus.
Ich habe erlebt, dass Böcklin, wohl in der Meinung fertig
zu sein, drauf ging wie ein Wilder, aber oft genug etwas anderes
fand als den Ausdruck seiner Vorstellung, und so habe ich ihn
vieles wegwerfen sehen, was ihr nicht in einem Guss aus-
reichend entsprach.
Auch er wusste, wenn er anfing, nicht ganz genau, wohin
er kommen würde. Er wartet auch, was aus dem Reichtum
aus ihm heraus dazukommt während der Arbeit und dann
meinetwegen anderes umstösst. Auch er muss oft, ohne sich
alles Zugehörigen vorher kühl bewusst zu werden, wagen, ver-
suchen wie weit die Kräfte reichen, wie weit seine Empfindung
stark genug gewesen, um schöpferisch vorzuhalten bis zum
Fertigsein, bis die grosse Rechnung stimmt.
Die meisten Künstler allerdings kommen erst durch die
Anschauung des Werdenden, die Anregung der entstehenden
Zufälligkeiten zu ihrem kaum vorher berechneten Resultat.
Noch einmal die Sensibilität künstlerischer Schöpfungs-
launen: Goethe schrieb Hermann und Dorothea ohne das
Zimmer zu verlassen, d. h. er hatte anstatt der hundert kleinen
gar kein anderes Verhältnis zu irgend etwas auf der Welt als
das zu seinem Stoff, zu dieser Sache. Und nun macht er nicht
etwa einen „Prometheus", sondern kommt der Antike viel
näher, macht etwas Gutes, indem er das formt, was er genau