196 BÖCKLIN-AUFZEICHNUNGEN UND ENTWÜRFE
Also: die meisten Leute sehen wie es gerade Mode ist,
glauben aber an ihre eigenen Augen und Hirn. Ergo sehen
nicht sie falsch, sondern der, der anders anschaut als sie. Meine
Versicherung, dass Böcklin selbst in seinem „Gefilde der
Seligen" noch lange nicht an die „Effekte" des südlichen Himmels
reicht, wird darin nichts ändern, auch berührt das ja nur ganz
äusserlich die Frage. Versuchen wir es lieber mit dem Satz:
Auch das künstlerische Sehen setzt eine bestimmte Anlage vor-
aus und will gelernt und geübt sein. Vor allem aber kommt
es darauf an, wer sieht. Sonntagskinder z. B. sollen mitunter
mehr sehen als photographische Apparate.
So gewiss die dichterische Wahrheit wahrer ist als die
historisch gefundene, so sicher ist künstlerisch gesehene Natur
wahrer als philisterhaft gelehrte oder mechanisch angeschaute,
wahrer als die photographierte.
Aber dass irgend eines Tages auch das Publikum diesen
Satz glauben würde und anfangen sollte künstlerisch zu sehen,
erscheint mir nicht einen Augenblick wahrscheinlich. Ebenso-
wenig wird es aber auch der Versuchung widerstehen können,
in Dingen der Kunst sein Urteil abzugeben.
Die „Kunst für Alle" ist ein Wort, an das ich nur so
lange geglaubt habe, als ich mit der Kunst noch keinen direkten
Verkehr pflog, sondern einer von den „Allen" war.
Für jeweniger die Kunst ist-besser, an je weniger ein
Kunstwerk sich wendet, um so vornehmer wird es wohl sein.
Das Publikum will sehen, was Seinesgleichen und von
Seinesgleichen ist, oder es will staunen wie in der Seiltänzer-
Zaubererbude, und zwar das vornehmste Publikum so gut wie
das maulaufreissende. Sehen, aber nicht empfinden nicht
sich umändern müssen!
(Einem Publikum, welches Specialisten, Virtuosen und
Spekulanten bewundert, wird freilich der nach immer grösserer
Einfachheit, nach immer klarerer Individualisierung strebende
Künstler wenig zu sagen haben.)
Demnach richten sich die meisten heutigen Bestrebungen
auch nicht auf die Kunst, sondern dienen dem Ehrgeiz die
Maschine (die das Alltägliche, überall umsonst zu Habende,
billigst leistet), die Photographie für teures Geld zu erreichen.
Soweit wird es der Mensch nun allerdings kaum bringen.