UNSERE ZEIT, MODE, PUBLIKUM 195
Es ist neben der ererbten Gewohnheit lediglich dieser
Mangel an Selbständigkeit und Erfahrung im Anschauen und
an Nachdenken darüber (was. mit „Mode" identisch ist), was
die Leute über Böcklins Farben resp. seine „Verachtung der
Form" staunen oder spotten lässt. Auf diesem Gebiet wird
die Gleichheit aller niemals Wirklichkeit werden. jeder sieht,
ja, aber von der Wahrheit doch nur das Stück, das ihm ver-
wandt ist. (Wahr ist für den einzelnen, was er erkennend.
geniesst, und als seiner Natur verwandt sich assimilieren kann.)
Es ist nur die Anschauungskraft, die zur Anschauungs-
Fähigkeit spricht. Auf die Schädel, die sich treffen, kommt es an.
Unsere Zeit, die so sehr die selbstbewusste unentwegte
Klugheit schätzt, sollte gerade dieses klugen. Künstlers Spuren
mit etwas mehr Vertrauen zu folgen suchen. Aber wir sind aller-
dings mit anderen Dingen beschäftigt, und zwar fahren wir in
tiefen Geleisen, die auch wohl so bald nicht ausgebessert werden.
Nächstens ist alles Staatsbahn von der Wiege bis zum Grabe-
und auch die kleinsten Wässerchen werden auf die Mühlen des
Staats geleitet. Die grossen freilich versanden inzwischen.
Dass die Böcklin'sche Ästhetik die Menge so fremdartig
berührt (auch z. B. in Frankreich, wo unser ästhetisches
System von Winckelmanns Gnaden längst keine Gläubigen
mehr findet), kommt eben daher, dass sie eine ganz individuelle,
mit nichts direkt Überliefertem zusammenhängende ist, gross-
gezogen aus dem Widerspruch gegen das Konventionelle und
I-Ialbkonventionelle.
Böcklin ist nicht „seltsam grellbunt". Wir sind nur die
Farbe nicht gewöhnt, welche Raum schafft und Fprm ausspricht;
wir wissen auch nicht mehr, dass die Kunst heiter sein sollte.
Wir vererben einstweilen die Galoschen der sog. "Zeichnung"
und des "Gedankens" weiter, und nach deutscher Art werden
noch Kind und Kindeskind darin zu schlurfen haben.
Weil einem eingeschlafenen Ohr eine Harmonie fremd-
artig erscheint, ist sie deshalb schon Disharmonie? Muss die
Minorität schon Unrecht haben, weil die Majorität anderer An-
sicht ist? Ich will an dieser Stelle gewiss nicht unparlamen-
tarisch werden, aber ich muss manchmal so ganz von Ferne
und sans comparaison an das alte Wort denken: „wat de
Bur nich kennt, dat frett he nich".