Volltext: Zehn Jahre mit Böcklin

KUNSTWERK UND BESCHAUER 
 
E 
S0 ein Bild auf das betrachten, was einen persönlich inter- 
essiert, kommt mir vor, als wenn man in den Freischütz geht 
wegen der Wolfsschlucht. 
Wer sich nicht an ein Kunstwerk ausliefern kann, viel- 
mehr dasselbe an sich selber misst; wer nicht sozusagen gläubig 
(mit gutem Willen), sondern kritisch (mit sozusagen bösem 
Willen) herantritt, hat schon keine Berechtigung mehr mit- 
zusprechen. 
Freilich für den Beschauer, der nur Zerstreuung sucht 
(der nur sich mitbringt, anstatt sich zu Hause zu lassen), öffnet 
sich kein Kunstwerk. 
Alle „Korrekturen" und Ausstellungen des betrachtenden 
Publikums beruhen auf Kennen und Wissen, haben aber gerade 
darum mit dem künstlerisch-schöpferischen Sehen gar nichts 
zu thun. 
Wir haben uns nur beim Künstler (vor seinem Werke) 
Rats zu erholen über das, was er gewollt (wir müssen ver- 
suchen, dem Werdeprozess des Kunstwerks zu folgen), gewiss 
nicht bei uns, unserem Denken, Empfinden, unseren Interessen 
und Wünschen. 
Umgekehrt muss der Maler mit seiner Umrechnung den 
Beschauer daran erinnern, was dieser selbst einmal von der 
Natur etc. gehabt hat. Er muss darauf rechnen. Denn seine 
Farbe ist eben sein Dreck in Tuben. Er hat schwarz und weiss 
und dazwischen allerlei Pigmente, die wohl farbig sind, ja, aber 
ihm fehlt das Glänzende, Strahlende. An dessen Darstellung, 
Beschreibung sozusagen, muss er einen grossen Teil seiner Ge- 
schicklichkeit, Geistesgegenwart und Erfahrung wenden.
	        
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