SEHEN 115
wechselt oder zusammengeworfen werden: das Sehen des Laien
(und wenn er auch Künstler ist) geht aufs Detail, das rein
künstlerische Sehen aber auf's Ganze, ersteres sieht Einzelheiten,
die es addieren kann, um dann noch lange nichts Künstlerisches
gesehen zu haben, letzteres empfängt einen Gesamteindruck,
ein Bild.]
Jedes Sehen ist subjektiv, das künstlerische Sehen aber
welches Meldung macht von der Art und Stärke der künst-
lerischen Beanlagung (welche nichts anderes ist, als starke Sub-
jektivität, Eigentümlichkeit), ist das Subjektivste, was es giebt.
Ein Künstler sieht nur, was ihm an einem Sichtbaren gefällt,
was er daran geniesst, liebt. Dadurch charakterisiert er das
Objekt und sich (seine Auffassung). Wo dieser Prozess vor
sich geht, darf man von "Kunst" reden. Es kommt darauf an,
was sich jemand von der Welt als sein Teil aussucht; denn,
dass er die ganze nicht haben kann, begreift jeder Akademie-
schüler. Wie weit er nachher I-Ierr seines Genossenen ist, das
ist die zweite Frage, die über den Wert eines Künstlers gestellt
werden kann und mit entscheidet.
Beobachten ist noch keine Kunst; aber eine Anschauung
haben und sie warm also nicht auf kaltem Wege über-
tragen, da fängt sie an. Nicht dass einer sieht, sondern was
er sieht, d. h. in wem sich's spiegelt, und was er davon als
interessierend und wesentlich erkennt, ist das Entscheidende.
Mein Hausknecht sieht auch.
(Ein Mensch, der beobachtet, ist darum noch lange kein
besonderer Mensch. Das ist der Naturzustand. Er ist nur
kein Krüppel, nicht durch die Schule etc. verdorben. Siehe
die Kinder. Also das macht den Künstler noch nicht, da
spricht man noch nicht einmal von Kunst.)
Es giebt komische Leute, die pochen darauf, dass sie nichts
lernen wollen, weil sie „ihre Individualität" zu verlieren fürchten.
Als ob einer von der loskommen könnte! Sie versäumen also
nur das gewöhnlich nicht sehr Besondere zu erziehen.
Solche komischen Leute erklären dann gewöhnlich, dass
sie malen, „was sie sehen". Als ob nicht alles darauf ankäme
wie einer sieht, und was er bei der Seele hat.