"KEINE NATUR 97
Elends oder dergleichen „für alle" sein. Warum soll er seinen
Werken nicht „unbegreifliche", „dämonische", ja „grässliche"
Elemente einfügen, wenn es die Erhöhung der Vorstellung gilt!
Um die Menschenfeindlichkeit des Hochgebirgs ganz aus-
zusprechen, warum kein rasender Kentaurenkampf über
den Wolken des Abhangs, um das Grausenerweckende des
stürmischen Meeres deutlich zu machen, warum keine See-
schlange etc.?
Das alles ist hinzugethan, um zu dienen. Wo es einem
graust, wollte er Grausen erwecken, so als er die Schrecken
der „Via Mala" erhöhte, da er nicht mit den gleichen Mitteln
wie die Natur: Einsame Verlassenheit, Gefahr etc. wirken konnte.
Und dann sind diese Schreier nach Naturwahrheit noch
in einem anderen Irrtum befangen, abgesehen von ihrer eigenen
wahllosen Nüchternheit und Anschauungsblässe: man erzielt
durchaus nicht den Eindruck der Naturwahrheit, wenn man
alles malt, was etwa für den spazierengehenden Blick noch zu
sehen wäre. Das Viele schliesst das Bewusste aus, macht aber
auch äusserlich das Ganze, gewiss das Grosse tot. Man muss
die einfachen breiten Mittel sehen, mit denen die Natur wirkt
und mit ihnen im Verhältnis seiner übertragenen Sprache
wieder zu wirken suchen.
Die ganze Wirklichkeit hat niemand, auch der nicht, der
sie will.
Man muss überall opfern in der Kunst, um mit seinen
andersartigen Mitteln und eigenen Absichten nur halbwegs auf
die Höhe zu kommen, man muss übertreiben und vernach-
lässigen. Zwischen Nicht-Können und Vernachlässigen ist ein
Unterschied, wie er auf diesem ganzen Gebiet nicht grösser zu
denken ist. Man opfert die Richtigkeit der Proportionen der
Ausdrucksstärke der Geste, die relative Wahrheit des Tons
seiner Wirksamkeit, die Zeichnung der sprechenderen schöpfe-
rischen Farbe etc., in summa den Zufall in der Natur und
seine Wahrhaftigkeit der Absicht und ihrer Wahrheit. Die
Kunst erfordert ein ewiges Zugestehen des Wissens an die
Wirkung. „Man muss der Verständlichkeit zu Liebe manches
thun", sagt Böcklin. Und gerade dies ununterbrochene Ab-
wägen derVorteile und das Opfern der geringeren ist ein
grosser Teil seiner Kunst. Böcklin greift, ähnlich wie zur
Floerke, Böcklin. 7