106
Ob ihm dies und sein Entwicklungsgang bis hierher
ins Bewusstsein trat, als er tief aufatmend Pinsel und
Palette bei Seite legte und lange auf diese Arbeit
schaute? Er steht geistig zu hoch, um nicht ein sicheres
Urteil über die springenden Punkte in seinem Schaffen
zu haben, um nicht zu wissen: hier ist ein Punkt,
über den du nicht mehr hinauskommst! Mag hiervon
nicht ein intim-persönlicher Faden zu jener so bedeutsam
abschliessenden Schöpfung mit dem Thema: wVita
somnium brever (1888), wdas Leben ist ein
kurzer Trauma, hinüberleiten? Denn bei stiller Einkehr
schwinden die Zwischenräume und Reibungen, müh-
loses, wenig ausgenutztes Tagwerk scheint, was heisses
Ringen vieler Jahrzehnte war; die goldenen Früchte im
Korbe verraten nichts von dem langen und schwierigen
Prozess ihres Wachstums seit dem ersten Frühlingshauch,
nichts auch von ihrer NVirkungskraft. Es ist ein
freundlicher Gedanke, einen Grossen in stiller Gelassen-
heit also die Summe des Lebens ziehen und die Quint-
essenz seiner innersten Art am Ende der Bahn in einem
sonnigen Gedicht niederlegen zu sehen, das Geist vom
Geist seiner lieblichsten Blüte, nämlich der Frühlingsbilder
in den ersten Florentiner Jahren, ist. wVita somnium
breverc ist ein solches Facit; dass hinter der allgemein-
menschlichen NVahrheit eine persönliche zu suchen ist,
dürfte mehr als eine untergeschobene Vermutung sein,
denn der innere Zusammenhang bei jeder Handlung, das
planvolle, gedankenreiche, Beziehungen suchende Inein-
anderwirken ist auch eins der stechenden Kennzeichen
bedeutender Persönlichkeit; es wird bei ihr immer nur
äussere, nie innere Zufälligkeiten geben.