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seine Stoffe, wie Eitelkeit und Bescheidenheit etc., haben
für die Jetztzeit keine Bedeutung mehr.
Dafs bei uns keine Kunstblüte ist, liegt an der
Interesselosigkeit der Menge, nicht" nur an der
nüchternen, unmalerischen Aufsenseite der Menschen
denn, dafs die Alten nackt gingen, ist unwahr. Auf der
Bühne, die doch das Leben repräsentiert, gingen sie nie
nackt. Es war künstlerische Anschauung bei ihnen, dafs
sie z. B. einen Sieger nackt in triumphierender Mannes-
schönheit, die Viktoria mit Kranz aber hinter ihm, dar-
stellten. Während ein heutiger Künstler, z. B. Adam, im
Geschmack der Zeit den siegenden Feldherrn mit klarer
Uebersicht der Schlachtordnung (so dafs ein Fachmann
gerade die betreffende Schlacht daraus erkennen könnte)
darstellen würde.
Es ist in heutiger Zeit auch gar nicht an einen baldigen
Umschwung zu höherer Kunstanschauung und größerem
Kunstsinn zu denken, trotz Eisenbahnen, Telegraphen
und gröfserer Wechselbeziehung der Völker: denn, wenn
ein Volk oder eine Zeit dazu disponiert ist, so kann sich ein
solcher bei den einfachsten Lebensverhältnissen und Zu-
ständen in unglaublich kurzer Zeit entwickeln, wie in
Griechenland.
In einer Weise hätte die Kunst des Cinquecento
doch einen Schritt weiter gemacht, indem sie nicht blofs
zum Auge, sondern auch zum Gefühl sprach. Das ganze
Altertum hätte z. B. nicht eine so liebenswürdige Idee
dargestellt, wie die Mutterliebe (Madonnen) etc. Uns, die
Wir gewöhnt wären, aus der Verhüllung nur den Kopf der
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