Einleitung.
Lessing war von zwei Künstlern ausser von Graff gemalt worden. Das für
Gleim's Freundschaftstempel um 1770 angeblich von Georg Oswald May
gefertigte Bild ist vorzüglich, wurde von Goethe in hohem Grade verehrt und
ist auch später für die Gesichtszüge der Braunschweiger Denkmalstatue von
Rietschel benutzt worden. Das lebensgrosse Brustbild von Johann Heinrich
Tischbein in der Berliner Nationalgallerie, welches Lessing in seinem dreissig-
sten Lebensjahre darstellt, lässt ebenfalls in Bezug auf Portraitähnlichkeit
Nichts zu wünschen übrig. Worin aber beide hinter der von Graff herrüh-
renden Darstellung weit zurückblieben, das war die Auffassung der geistigen
Grösse des Mannes; erst Graff zeigte sich nicht nur als Physiognom sondern
als Psycholog, erst sein Bild enthüllte ganz das Wesen des kühnen und be-
sonnenen, bahnbrechenden und klaren Geistes?)
Seitdem ist Graff überall, wo Gelegenheit war ihn zu nennen, mit der
grössten Achtung genannt worden. Eine monographische Behandlung hat er
trotz alledem noch nicht gefunden.
Die folgenden Zeilen versuchen eine solche zu geben. Es gilt zunächst
sein Leben zu erzählen, dann die wichtigsten seiner Bilder zu besprechen.
Gedruckte Biographien Graff's lagen bisher nur zwei vor: der GrafPs
erste dreissig Lebensjahre umfassende Artikel in Füsslfs „Geschichte der
besten Künstler in der Schweiz" 2) und die kurze, namentlich für die spätere
Zeit unvollständige Biographie Ulrich Hegner's in dem "Neujahrsstück der
Züricher Künstlergesellschaft auf das Jahr 181593) Dagegen war an unge-
drucktem Material reiche Ausbeute zu gewinnen. GrafPs kurze aber höchst
werthvolle Selbstbiographie, ferner eine 1768 geschriebene humoristisch ge-
haltene Lebensschilderung, von seinem Freunde Heidegger verfasst, endlich
sämmtliche Briefe Sulzer's, Salomon Gessner's u. A. an Graff wurden dem
Verf. von ihrem Besitzer, Herrn Wilhelm Kraukling in Dresden, zur Ver-
fügung gestellt. Viele biographische Notizen enthielten Graff's in der Winter-
thurer Stadtbibliothek bewahrte Schreibcalendertt); die amtlichen Documente
über seine Berufung nach Dresden, seine Gehaltszulagen etc. die Acten der
Dresdener Kunstakademie im dortigen Hauptstaatsarchivß)
I) L. v. Donop in Liitzoivis Zeitschrift für bildende Kunst von 1378.
2) joh. Casp. Füssii: Geschichte der besten Künstler in der Schweiz, Zürich 1769-
74, Bd. III.
3) Ulrich Hegner: Das Leben und die Charakteristik Anton (JrafPs, churfürstl. saechs.
Hofmalers in dem „NBUji'Ll'i1'SStiiCl{ herausgegeben von der Kiinstlergesellschaft in Ziirich auf
das Jahr 1815", neu abgedruckt in Ilegnefs gesammelten Schriften; Berlin, Reimer 1832, Bd. V.
4) Dreissig Dresdener Schreibcalenrler mit autographischen Notizen über gefertigte
Portrails aus den Jahren 1775, 1777-81, 1783-1804, 1812 u. 1813.
5) Acta, die neuerrichtete Kunstakademie betreffend, vol. I U]. 273, 288, 294, 303, 304;
vol. 11 B]. 23h, 27b; vol. III B]. 127cc; vol. IV B1. 33h, 81b; vol. VII 1-21. 67; vol. IX
B]. 85, 97b; vol. Xl B]. II2.