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Die Menschen des Michelangelo
erhalten, müssen wir uns die schlaffen Muskeln wieder belebt, mit
der Fähigkeit, sich in sich zusammenzuziehen und dabei anzuschwellen
begabt denken, und mit diesem Denken thut man dann leicht des
Guten etwas zu viel.
Es kann nicht anders sein: eine solche Art, den Körper darzu-
stellen, welche mit den Kleidern auch die Haut als eine zweite, kaum
mehr nothwvendig dazu gehörige Hülle fast auch wie weggenommen,
oder doch wie durchsichtig gemacht scheinen lasst, muss einen ganz
anderen Eindruck auf den Beschauer machen als die bis in die
feinsten Nüancen der Hautoberfläche naturtreue Nachahmung des
Lebens bei den Griechen. In ihren Gestalten bewundern wir mit
reiner Freude die Schönheit des menschlichen Leibes in der zarten
Blüthe der schönsten Jahre, wo noch nicht durch das Anarbeiten der
unterliegenden Theile die Weiche Decke wie abgetragen, sondern selbst
noch wie von einem Hauch organischer, beseelter Form durchdrungen
ist, den wir zwar nicht Weiter verstehen und deuten können, aber
ahnungsvoll anstaunen, wie eine frische Blume. An Michelangelos
Gestalten hat die Arbeit des Lebens diese zarte Aeusserung der Be-
seelung schon von der Oberfläche zurückgedrängt. Ein Bild der ge-
alterten Menschheit, die sich nicht mehr in naivem Behagen ihres
Lebens im Leibe freut, sondern ihn nur als Werkzeug des Geistes
gebraucht, bieten sie uns dar. Sie stellen uns nicht den täuschend
natürlichen und jugendlich blühenden Glanz der Erscheinung gesunder
frischer Leiber vor Augen, um uns wie in einem idyllischen Stande
der Unschuld daran zu ergötzen; noch weniger machen sie gar, wie
die Nuditaten moderner Maler einen üppig reizenden Eindruck, eher
den einer traurigen Blösse. Aber sie lassen um so viel mehr die
wirklich verständliche Beseelung des Körpers, das Spiel seiner Muskeln,
die Stellung der Knochen mit gesteigerter Deutlichkeit, als wenn wir
es im eigenen Körper nachfühlen, erkennen.
Aehnlich giebt Burckhardt in seinem Cicerone den Eindruck der
Art, wie Michelangelo die Gestalt des Menschen behandelt, wieder.
"Seine Darstellungsmittel", sagt er, "gehören alle dem höchsten
Gebiete der Kunst an; da sucht man vergebens nach einzelnem
Sinnlichen und Lieblichen, nach seelenruhiger Eleganz und buhle-
rischein Reiz; er giebt eine grandiöse Flächenbehandlung im