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Michelangelo
Die Menschen des
cität oder Biegsamkeit und verdeckt so den einen unterliegen-
den Theil mehr, den andern weniger. Daher die gemilderte
Form, in welcher die starken Vorsprünge der Knochen und Muskeln
sich durch die äussere Oberfläche hindurch nur offenbaren, die zarten
Wölbungen der letzteren. Durch ihren Anblick erklärt es sich, wie
Hogarth zu der Theorie gekommen ist, die Schönheit der Gestalt des
menschlichen Körpers und seiner antiken Nachbildungen beruhe
darauf, dass sie von Wellenlinien umschrieben sei, d. h. von Linien,
die in ununterbrochenem Zusammenhange, ohne Ecken zu bilden,
sich bald heraus- bald hineinbiegen. Dies ist nun freilich, wenn wir
genau zusehen, gar nicht der Fall. Wenn wir den Umriss eines
schönen nackten Körpers, oder einer vollkommenen antiken Statue
recht genau mit dem Auge verfolgen oder nachzeichnen, so finden
wir, dass es gar keine eingebogenen Theile an demselben giebt, son-
dern nur herausgewölbte, die nur da, wo mehrere aneinander grenzen,
hineingeknickte Ecken bilden können; aber diese Ecken sind oft so
sanft, dass man sie leicht für eine fortlaufende Einbiegung zwischen
den Hervorwölbungen ansehen kann, und dass es also selbst einem
Zeichner wie Hogarth durch etwas leichtes Darüber-hingehen möglich
war, seine Theorie durch scheinbar richtige Zeichnungen mit Bei-
spielen zu belegen.
Diese Täuschung wird bei einem Werke von Michelangelo nicht
vorkommen können. Denn da treten die Vorsprünge der Knochen
und Muskeln unverkennbar scharf abgegrenzt hart aneinander, als
wenn die Haut nur eben wie eine Tapete oder ein Tricot von überall
gleicher Dicke darüber hingezogen wäre. Dies ist nun ganz begreif-
lich aus der Art, wie der Künstler die Gestalt der Theile des Körpers
aus dem Studium der Leiche kennen gelernt hat. Denn er wird es
dabei nicht anders gemacht haben, wie wir es thun. Die Haut be-
steht aus Leder und zwar in einem Stücke über den ganzen Körper
hin; ohne die festere Unterlage wäre sie nur ein schlaffes Fell. Für
uns, die wir nach geformten Theilen suchen, ist sie nur im Wege.
Wir ziehen sie, wenn wir die Leiche untersuchen, gleich herunter;
wir nehmen uns kaum Zeit, erst den todten Körper noch einmal im
unversehrtem Zustande zu betrachten. Und mit der Haut entfernen
wir zugleich die ihr zunächst anhängenden Fettlagen, welche uns die
eckigen scharfen Grenzen zwischen den Knochen und Muskeln aus-