Volltext: Vorträge über Plastik, Mimik und Drama

des 
Die Menschen 
Michelangelo. 
Künstler bereits dem Gefühle unmittelbar aufgeschlossen hat, auch für 
den Verstand bestätigen zu können. _Diese wissenschaftliche Betrach- 
tung von Kunstwerken wird dann eine besonders einladende, wenn 
jene Benutzung der wissenschaftlichen Hülfe bei ihrer Herstellung vor- 
hergegangen ist. Wo der Künstler die schaffende Thätigkeit seiner 
Phantasie schon mit Bedacht und Berechnung geübt hat, werden wir 
seine Leistung auch um so eher erforschen können. 
Meine Wissenschaft, die Anatomie, die Kenntniss des menschlichen 
Körpers, kann sich rühmen, dass die bildende Kunst um ihren vor- 
nehmsten Gegenstand, den menschlichen Körper darzustellen, es nicht 
verschmäht, bei ihr in die Schule zu gehen, trotzdem dass wir ihr 
den gemeinsamen Gegenstand unserer Untersuchung und ihrer Nach- 
bildung nicht einmal in dem Zustande vorführen können, in dem sie 
ihn darstellen will; denn wir machen unsere Studien an der Leiche, 
der Künstler aber will den lebenden Menschen "zur Anschauung 
bringen. Die Griechen freilich, von denen uns die vollkommensten 
plastischen Nachbildungen der menschlichen Gestalt leider nur in 
Trümmern überliefert sind, trieben keine Anatomie. Sie sahen desto 
häufiger im Leben die freie Entfaltung der Glieder. Der moderne 
Künstler aber muss ebenso gut wie der Arzt die Zusammensetzung 
und selbst die äussere Gestalt unseres Leibes, wie ihn Gott geschaffen 
hat, erst durch besonderes Studium kennen lernen. Er hält sich zwar 
zu diesem Zwecke mehr an lebende Modelle; aber er macht doch 
auch von unserer Leichenschau mit Gebrauch, die den Vortheil hat, 
das ganze herrliche Gebilde, dessen Zusammensetzung sie verstehen 
lernen will, auch mit dem Messer in seine Theile zerlegen zu dürfen. 
Der grösste Bildhauer nach den Griechen, zugleich einer der grössten 
Maler und Baumeister der neueren Zeit, Michelangelo Buonarotti, 
soll nicht weniger als zwölf Jahre seines Lebens Anatomie studirt und 
zu dem Zwecke selbst Leichen zergliedert haben; er soll auch damit 
umgegangen sein, ein Buch über die Bewegungen und die Formen des 
menschlichen Körpers zu bearbeiten und darin eine eigene Theorie 
derselben aufzustellen. Er hat es nicht gethan, aber seine Werke 
zeugen von diesen seinen Studien. 
Von Anfang an bei den Zeitgenossen und nachher ist deshalb in 
der virtuosen, anatomisch richtigen Darstellung des nackten mensch- 
lichen Körpers in allen möglichen Stellungen und Verkürzungen ein
	        
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