Die
Menschen
des
Michelangelo
im
Vergleich
mit
der Antike.
Vortrag gehalten in Rostock
1871 x).
Kunst und Wissenschaft sind Schwestern, von einer Mutter, der
lÄTahrheit geboren und zu einer grossen Lebensaufgabe, das Ewige im
vergänglichen zu erkennen, erzogen. Aber sie verfolgen dieselbe auf
getrennten Wegen, die eine durch das Gefühl, die andere durch den
Gedanken; die Kunst, indem sie mit freier Hingebung die Erscheinung
des Lebens, in welcher sich ewige Ideen spiegeln, erfasst, festhält und
neu geboren vor Augen stellt, die Wissenschaft, indem sie mit be-
dächtiger Zurückhaltung aus dem Bilde des Lebens nur die Züge
herausgreift und auf feste Formeln bringt, in denen sich ewige Gesetze
aussprechen. Mehr nur gelegentlich berühren sich beide doch wieder
und unterstützen einander. Die Kunst lässt es sich gefallen, wo sie
die Natur recht treu nachahmen will, und dessen durch die freie Hin-
gabe an den unmittelbaren Eindruck doch nicht immer ganz sicher
ist, ein wissenschaftlich methodisches Studium zu Hülfe zu nehmen. Die
Wissenschaft findet gern in den Werken der Kunst aus der Er-
scheinung des Lebens die sprechendsten Züge, die sie sich im Leben
erst aus einer bunten Vermischung mit zufälligen Nebenumständen
hervorsuchen muss, mit freier Wahl und richtigem Blicke bereits
herausgehoben und erkennt, wenn dabei der Natur doch nichts unter-
geschoben ist, sie selbst leichter und reiner in diesem Bilde wieder.
Sie freut sich, indem sie dasselbe betrachtet, Wahrheiten, die der
erschienen,
Druck
Rostock bei
Kuhn (jetzt
18711.
W erth er)