Volltext: Vorträge über Plastik, Mimik und Drama

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der 
Anatomie 
Tragödie. 
Motive. Der Charakter der germanischen Völker aber begünstigt im 
Gegensatz dazu das jeder höheren Macht trotzende Sclbstgefühl. Die 
jeder Autorität spottende Freiheit des Gewissens und der Ueber- 
Zeugung, jenes "hier stehe ich, ich kann nicht anders" Luthers vor 
Kaiser und Reich, der Trotz des Protestantismus sind nationale 
Charakterzüge, die in unserer Cultur dem beruhigenden Einflusse des 
Christenthums das Gleichgewicht halten, um tragische (Jonfiikte nicht 
aussterben zu lassen. In den Helden der Zeiten des Faustrechts, in 
Shakespeares Krieg der beiden Rosen, in jenem Richard lIL, dem 
unübertroffenen Meister der Emancipation von jeder zarten Rücksicht, 
sind sie zur Carricatur geworden, vor der sich unser Gefühl ganz 
verschliesst; aber der Grundzug der Neigung, als höchstes und allein 
unmittelbar berechtigtes Gesetz und Ziel des Lebens das persönliche 
Bedürfniss, den Instinct des Individuums aufzustellen, von seinen 
Forderungen um's Leben nicht abgehen zu dürfen, ist keinem Menschen, 
und ist besonders keinem Deutschen fremd. Davon hängt in unserer 
Geschichte Glück und Unglück ab. Das macht uns in der Kunst vor 
allen Völkern für das Tragische empfänglich, so dass schon unser 
Epos von tragischen Ideen durchdrungen ist, wie bei andern Völkern 
kaum das Drama, und die Tragödie bei uns unzweifelhaft die grösste 
Empfänglichkeit voriindet. 
Was dem Helden entgegentritt, sind zum Theil nur ähnliche 
Ueberhebungen anderer Menschen. Wären sie es aber allein, oder 
auch nur vorzüglich, so wäre die Motivirung des Schicksals doch zu- 
fällig. Es muss eine höhere Entscheidung desselben geben. Wie des- 
halb aus der Reihe der um ihn gruppirten Gestalten die seinige, so 
tritt aus dem Gewühl der Mächte, gegen die er ankampft, ein höheres 
allgemeines Princip hervor, dessen Sieg uns schrecklich sein kann, 
wenn derselbe das stolze Selbstbewusstsein, von dem wir uns 
mit gehoben fühlten, niederwirft, im Grunde aber doch gebilligt 
werden muss. 
Die unentliiehbare Nemesis, die ewige Gerechtigkeit, die tödtliche 
Consequenz der Verkettung von Schuld und Verhangniss muss uns 
aus dem, was unser Mitleid in der Tragödie erregt, entgegenleuchten, 
wenn es ein reines sein, wenn es nicht mit Erbitterung und Unzu- 
friedenheit über das Geschehene versetzt sein soll. Die wirkliche Be- 
rechtigung der Freiheit des Einzelnen beruht nur in der Harmonie
	        
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