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der
Anatomie
Tragödie
unübertroffen. In seinen grossartigsten Stücken sind die Helden, oder
vielmehr Heldinnen Barbaren und als solche, unterdrückt und zu-
gleich gewaltsam widerstrebend, leiden und thun sie Entsetzliches.
Medea, von Jason treulos verlassen, würgt ihre Kinder, Hekuba den
Mörder ihres Sohnes. Ihnen gegenüber stehen die Griechen als die
nach der Auffassung des Dichters und seiner Zuschauer berechtigteren
Gegner; Odysseus und Menelaus, die Führer gegen Troja, handeln
consequent überlegen gegen die barbarische Roheit. Selbst der treu-
lose Jason, der seine erste, aus dem Lande der Barbaren von der
berühmten Abenteuerfahrt mitgebrachte Gattin und Mutter seiner
Kinder verstösst, um durch eine neue Verbindung mit einer griechi-
sehen Königstochter eine festere Stellung zu gewinnen, weicht von
der Anschauungsweise der Zuschauer, wie sie Euripides voraussetzt,
nicht weit ab. Auch sie werden denken, die Fremde sei für die
rückhaltlose Hingebung, mit der sie ihm nach Griechenland gefolgt
ist, schon belohnt genug dadurch, dass sie in der Heimath der
höheren Gesittung aufgenommen und bekannt geworden sei. Trotz-
dem musste, wie uns, so auch schon dem stolzesten Athener ihre trost-
lose Lage und dierohe, aber wahrhaft menschliche Aufbaumung ihrer
Natur menschlich rühren und die Kalte, mit der Jason ihr gegen-
übertritt, im Vergleich damit auch kalt lassen, selbst wenn er Barbaren
gegenüber vielleicht ebenso rücksichtslos handeln zu dürfen glaubte.
Hinter den grossen Gestalten allen, Haupthelden der Tragödie
mit Genossen und Gegnern, stehen endlich in näherer oder ent-
fernterer Beziehung zu beiden die vollkommen untergeordneten Neben-
iiguren, die in der alten Tragödie als Chor zusammengefasst waren.
Sie drücken die Stimmung bescheidener Zuschauer gegenüber den
grossen Thaten und Leiden der gewaltigen Helden aus. Sie können,
wie die Zuschauer die Leidenschaft der Helden mitfühlen, ohne sie
doch zu theilen.
Blicken wir nun auf Schillefs Wallenstein, so scheint gleich die
Hauptperson kein sehr sprechendes Beispiel von dem unbestimmten
Charakter zu geben, den wir als allgemeinen Typus eines tragischen
Helden vorausgesetzt haben, von jener allseitig ausgebildeten, mit sich
selbst oft streitenden Mischung verschiedener Anlagen. Die Ge-
schichte giebt ein viel einfacheres, schroli" eigenthümliches Bild von
Wallenstein, und Schiller unterlässt nicht, uns gleich im Prolog